Porträt

Die Frau hinter »Bridgerton«

An einem herrlichen Sommertag saß Julie Cotler vor einigen Jahren auf den Stufen der ehrwürdigen Harvard-Universität. Die Wangen rosenrot, die Hände ein wenig zitternd, umklammerte sie das leuchtend türkisfarbene Buch und sog begierig jede Zeile auf. »Pardon?«, die Stimme, dunkel, samtig und doch klar, »gehört dieser Stift dir?« Julias Herz begann eine wilde Chamade zu schlagen, als sie in des Jünglings Auge blickte. Sie wagte kaum zu atmen, als er ihr den Stift reichte. »Paul«, sagte er schmunzelnd, »Paul Pottinger mein Name.«

So oder so ähnlich mag es sich zugetragen haben, als Julie und Paul in Harvard aufeinandertrafen. Julie, ein wissbegieriges jüdisches Mädchen aus Neuengland, hatte gerade ihr Kunstgeschichtsstudium begonnen und überlegte, ob sie Architektur oder Medizin in Yale studieren sollte. Alle Möglichkeiten standen ihr offen. Talentiert war sie, ehrgeizig, vielleicht nicht wirklich »popular«, wie die Amerikaner zu sagen pflegen. Ihre Leidenschaft galt historischen Liebesromanen, was man an einer Eliteuniversität tunlichst nicht offen zur Schau tragen sollte.

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Es war eine heimliche Liebelei, die sie mit kaum jemandem teilen konnte. Paul aber erkannte in Julie nicht nur seine Julia, sondern auch eine Dichterin und Denkerin. Er glaubte an sie und sie an ihn, was auch immer ihnen an Vorurteilen entgegenprallen würde. Sie beide hatten ihren Stolz und genug Verstand und Gefühl, um den Widernissen des Lebens standzuhalten.

kitschroman Et voilà, und schon sind wir mittendrin in einer Romanze, die als Blaupause für sämtliche Kitschromane taugen könnte. Und in der Tat sollte sich das romanzenverliebte Mädchen Julie in die Bestsellerautorin Julia Quinn verwandeln. Paul, der schüchterne Student, wurde zu einem renommierten Virologen, der von einem Washingtoner Gesundheitszentrum aus die Welt über Corona aufklärt. Julie und Paul – ein amerikanisches Dream Team!

Weshalb sollten sich die Leute ausgerechnet für das Liebesleid einer Adelsfamilie begeistern?

Zu einem Fairy Tale, einem Märchen, wie es im Buche steht, sollte das Leben der beiden jedoch erst werden, als die berühmte Produzentin Shonda Rhimes an die Tür klopfte. Julia Quinn war bereits eine anerkannte Romance-Autorin, hatte mehrere Romane veröffentlicht und konnte von ihren Tantiemen, die sie vor allem mit ihrer Buchreihe Bridgerton einnahm, gut leben.

Dass nun aber eine der erfolgreichsten Produktionsfirmen Amerikas den romantischen Zyklus über eine High-Society-Familie im England des frühen 19. Jahrhunderts verfilmen würde, daran hätte Julie Pottinger alias Julia Quinn nicht einmal im Traum gedacht. Romance war eine Literatursparte, die verschmäht war als Schundliteratur, gebannt auf billiges Papier zwischen zwei grell bedruckten Pappdeckeln. Weshalb sollte sich ausgerechnet der Streamingdienst Netflix für Liebesleid und Liebesfreud einer adligen Großfamilie im Regency-England interessieren?

pragmatisch Julie Pottinger, die selbst gern Fargo, Highlander und Peaky Blinders sieht, hätte sofort eine Antwort parat: Liebe ist universell. Sie selbst habe »einen unbedingten Glauben an die Liebe«. »Cynical«, zynisch, sei sie in mancherlei Dingen, nicht aber in der Liebe. Im Podcast »Romance at a Glance« spricht Quinn über die zeitlose Sehnsucht nach Liebe. Wer sich nun aber Quinn als ein verträumtes Wesen vorstellt, in Feenstaub gehüllt, der täuscht sich gewaltig.

Quinn ist eine pragmatische Romantikerin: Ein Faible hat sie für das »slow and steady thing«, Eile mit Weile, Ausdauer und Beständigkeit sind ihre Attribute. Mit schöner Regelmäßigkeit widmet sie auch jedes ihrer Bücher ihrem Ehemann Paul. Worin aber liegt ihr Geheimnis? In einer Beziehung, »in der man zu zweit besser ist und dennoch vollständig unabhängig«, offenbart sie ohne Koketterie, ganz unglamourös bodenständig.

Das Interesse von Netflix an der »Bridgerton«-Buchreihe hat die Autorin überrascht.

Plötzlich blitzt sie auf, die fiktive Figur Daphne Bridgerton, die eine ganz genaue Vorstellung von ihrem Leben hat. Sie weiß dieses Ziel zu verwirklichen – mit Charme, Sinnlichkeit und Strategie. Daphne und Julia könnten zwar auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein, und doch begreift man schnell die Schwesternschaft im Geiste: Folge deiner Leidenschaft und arbeite hart an deinem Plan, lautet die Devise beider Frauen.

zuckerguss Ist der Sinn für Vielfalt erst einmal geschärft, hat man sich die Lust an Rosenwasser und Zuckerguss erst einmal eingestanden, genießt man auch Bridgerton. Was Wunder, ist auch diese Welt viel polychromer als man glaubt! Während Daphne Liebesglück ersehnt, ist Eloise begierig nach Unabhängigkeit, unbezähmbar widerspenstig. Alle Mitglieder der Familie hadern mit Etikette und Zwang, mit Stolz und allerlei Vorurteilen. Diesen ewigen Stoff weiblicher und auch männlicher Wirklichkeit hat bereits Jane Austen gewirkt. Aus Bridget Jones Tagebüchern ist er uns vertraut.

Shonda Rhimes und Julia Quinn haben den Faden noch ein Stück weiter gesponnen: Aus dem Stoff, aus dem die Träume sind, erschaffen sie ein Wunschbild gesellschaftlicher Wirklichkeit. Ganz selbstverständlich regiert eine schwarze Königin, helfen sich Frauen aus der Misere, klären sich auf und lernen sich zu behaupten in einem Haifischbecken, das uns auch heute nicht fremd ist.

Zeitgenössische Debatten in historischem Ambiente anzusiedeln, frei zu machen auch von Wertungen, das ist es, was uns reizt an Bridgerton. Denn wer, der noch halbwegs bei Trost ist, würde Quinn »Blackwashing« und historische Ungenauigkeiten vorwerfen? Bridgerton ist so real, wie Romance ebenso sein kann. In Eloise Bridgertons, und gewiss auch Julie Pottingers, Worten: »Why must our only options be to squawk and settle or to never leave the nest? What if I want to fly?«

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