Roman

Dicht und eloquent

Mit »Schlamassel!« setzt die Berliner Schriftstellerin Marcia Zuckermann endlich ihre Familiengeschichte »Mischpoke« fort

von Gerhard Haase-Hindenberg  27.11.2021 17:22 Uhr

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Mit »Schlamassel!« setzt die Berliner Schriftstellerin Marcia Zuckermann endlich ihre Familiengeschichte »Mischpoke« fort

von Gerhard Haase-Hindenberg  27.11.2021 17:22 Uhr

Die Vokabel »Schlamassel« hat ihren Ursprung im Jiddischen und bedeutet das absolute Gegenteil von Masel, was für Glück steht. So hat die Autorin Marcia Zuckermann ihren neuen Roman genannt. Er beginnt dort, wo der 2016 erschienene Familienroman Mischpoke endete. In der Zeit der Verfolgung nämlich und des Exils – im Schlamassel eben. Diesmal ist es kein Werk mit auf- und abrollender Handlung und einem Ineinandergreifen von Figuren.

Jedes Kapitel steht für sich, und erst, wenn sich die Leser einen Überblick verschafft haben, fügen sich die einzelnen Teile zu einem großen Ganzen zusammen. Es ist eine andere Form, die jedoch der Spannung keinen Abbruch tut und der literarischen Qualität nicht schadet. Um der Atmosphäre und dem Zeitgeist nachzuspüren, hat die Autorin sich nach eigenem Bekunden Inspiration bei Kollegen geholt: bei Arthur Koestlers Wie Diebe in der Nacht etwa, Ursula Krechels Shanghai fern von wo oder Howard Blums Ihr Leben in unserer Hand – allesamt Exilliteratur.

stammbäume Im Umschlag des Buches sind die Stammbäume der Familien Segall, Bukofzker, Kohanim und Rubin abgedruckt, die alle aus dem einst westpreußischen Schwetz stammen und durch Hochzeiten miteinander verschwägert sind. Deren Emigrationsgeschichten werden aus diversen Perspektiven erzählt. Zu Beginn taucht Johannes Segall – jetzt John – als Ich-Erzähler im Jahr 1962 in England auf, wo er im Herbst 1938 als jüdischer Jugendlicher angekommen war und von wo er danach in die USA ausreiste. Dort hat er es zu einer arrangierten Ehe mit erbkranker Tochter und zum Chefbibliothekar einer Uni gebracht.

In Großbritannien, wo er nun seine Reise beginnt, hatte er einst als deutscher wie jüdischer Junge unter den Diffamierungen britischer Nichtjuden zu leiden. Die Handlung wird durch diverse Briefe und durch Tagebucheintragungen ergänzt.

Jedes Kapitel steht für sich, und erst, wenn sich die Leser einen Überblick verschafft haben, fügen sich die einzelnen Teile zu einem großen Ganzen zusammen.

Die Familie Bukofzker, einst der größte Konkurrent der Familie Segall im örtlichen Holzhandel, bricht im November 1940 von Rumänien aus auf einem kaum seetauglichen Schiff in Richtung Palästina auf. Schon bald liegen sie mit dem »Seelenverkäufer« vor Heraklion auf Reede – ohne Lebensmittel, Wasser oder Kohle, um das Schiff zu befeuern. Dafür gibt es Typhus und eine Masern-Epidemie. Man hat Leichen an Bord, deren orthodoxe Angehörige aus religiösen Gründen eine Seebestattung ablehnen.

urlaube Schließlich findet Cäsar Bukofzker gemeinsam mit einem Schweizer Diplomaten vor Ort eine vermeintliche Lösung. Man startet in Richtung Haifa, und langsam wird Cäsar klar, dass er diese klimatischen Bedingungen in Zukunft immer würde ertragen müssen. Die Zeit der Urlaube im gemäßigten Klima von Biarritz, San Remo oder Baden-Baden sind wohl endgültig vorbei. Im Gegensatz zu seiner Frau hatte er nie recht an das zionistische Projekt geglaubt. Nach Wochen werden sie nach Mauritius verbracht, wo sie wie Gefangene gehalten werden.

Benno Rubin hatte sich in London die britische Finanzbuchhaltung selbst beigebracht. Um dem Internierungslager zu entgehen, lässt er seine Bereitschaft erkennen, in der Armee seiner Majestät zu dienen. Etwa zur selben Zeit beteiligt sich der junge Gabriel Bukofzker, der es endlich nach Eretz Israel geschafft hat, für die jüdische Untergrundtruppe Irgun an einem Anschlag gegen die Mandatsmacht.

Es ist die Zeit, als ein britischer Hochkommissar mit einem Federstrich über das Schicksal von 10.000 jüdischen Kindern entscheidet und sich in den Häfen seines Mandatsgebiets menschliche Tragödien abspielen.

abschiedsbrief Georg Rubin lernt auf dem Weg in die Schweiz einen berühmten jüdischen Ägyptologen kennen. Als der sich auf einer grenznahen Parkbank das Leben nimmt, hinterlässt er Georg nicht nur einen Abschiedsbrief, sondern auch neben seiner Identität in Form von Pass und weiteren Unterlagen die für ein Schweizer Nummernkonto.

Detailliert wird beschrieben, wie Georg sein eigenes Passbild in das Dokument bringt, was ihn zu einem vermögenden Mann macht. Aber die neue Identität als berühmter Wissenschaftler droht mehrfach aufzufliegen. Später plagt ihn ein schlechtes Gewissen, und er sucht das Gespräch mit einem Rabbiner. Der aber macht ihm klar, dass es die Aufgabe eines jeden Juden sei, sich selbst zu retten.

Das Ziel der Reise des Ich-Erzählers Johannes im Jahr 1962 in die alte europäische Heimat ist es, eine Chronik der über den ganzen Globus verstreuten Mischpoche zu erstellen. Die Suche nach dem ungeklärten Schicksal seiner Mutter führt ihn bis nach Wien. Hier nimmt der Roman eine wahrhaft dramatische Wende, die nach dessen Rückkehr in die USA in ein Finale hiobscher Dimension mündet. Es verbietet sich, Details zu verraten – nicht aber, gerade auch wegen dieser äußerst spannenden Szenen, den abermals dicht und eloquent erzählten Roman Schlamassel! zur Lektüre zu empfehlen.

Marcia Zuckermann: »Schlamassel! Ein Familienroman«. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2021, 400 S., 24 €

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