Nachruf

Der scheue Kultautor

Er verbarg sich hinter seinem Werk: J. D. Salinger 1919–2010 Foto: imago / (M) Frank Albinus

Nachruf

Der scheue Kultautor

Zum Tod des Schriftstellers Jerome David Salinger

von Georg Patzer  04.02.2010 00:00 Uhr

»Wenn Sie\\’s wirklich hören wollen, möchten Sie zuerst wahrscheinlich wissen, wo ich geboren wurde und wie meine lausige Kindheit war, und (…) den ganzen David-Copperfield-Mist, aber dazu habe ich keine Lust.« So frech fängt der Roman an und geht ebenso schnoddrig weiter, mit viel Slang: 255 Mal »verdammt« und 44 Mal »fuck« kommen vor. Das Buch erzählt von einem Jungen, der schon wieder von einer Schule geflogen ist, sich nicht traut, es seinen Eltern zu gestehen und durch das winterliche New York irrt. Der nicht weiß, wo er hin soll. Was er mit seinem Leben anfangen soll. Ach doch, das weiß er: »Aber jedenfalls stelle ich mir immer kleine Kinder vor, die in einem großen Roggenfeld ein Spiel machen. Tausende von kleinen Kindern, und keiner wäre in der Nähe – kein Erwachsener, meine ich – außer mir. (…) Ich müsste alle fangen, die über den Rand hinauslaufen wollen –, ich meine, wenn sie nicht achtgeben, wohin sie rennen, müsste ich vorspringen und sie festhalten. Das wäre alles, was ich den ganzen Tag lang tun würde.«

rabbinerenkel Jeder über 16 hat wohl den Fänger im Roggen gelesen, dieses 1951 erschienene Pamphlet gegen die verlogene Erwachsenenwelt (das drittwichtigste Wort im Roman ist »phony« – falsch, unaufrichtig), über die Suche nach dem Sinn des Lebens und dem richtigen Platz in der Welt. Die Weltauflage des Buchs beträgt 10 Millionen Stück. Sein Autor, Jerome David Salinger, ist vergangene Woche im Alter von 91 Jahren gestorben. Diesen einen Roman hat er geschrieben und einige Kurzgeschichten veröffentlicht, seit 1965 dann nichts mehr. Salinger hatte sich nach seinem frühen Erfolg völlig zurückgezogen, nur einmal, 1973, noch ein Interview gegeben, hat sich gegen Fotoaufnahmen gewehrt und gegen Biografien.

Man weiß verhältnismäßig wenig über ihn. Bekannt ist, dass er am 1. Januar 1919 in Manhattan als zweites Kind von Sol Salinger und Marie Jillisch geboren wird. Sein Vater ist der Sohn eines Rabbiners aus Litauen und importierte Käse und Schinken, seine Mutter, eine irische Katholikin nennt sich seit der Hochzeit Miriam. Jerome fliegt von diversen Schulen, wie sein Held Holden Caulfield. 1937 reist er mit seinem Vater nach Österreich und Polen, um das Lebensmittelimportgeschäft kennenzulernen. Er lernt Deutsch und dient später im Counter Intelligence Corps, dem Geheimdienst der U.S. Army, verhört im Zweiten Weltkrieg deutsche Deserteure und Gefangene, ist nach 1945 mit »Entnazifizierung« befasst. Was ihn nicht davon abhält, im Oktober 1945 die deutsche Ärztin Sylvia Welter zu heiraten, die erste seiner drei Frauen. Sie leben zunächst im fränkischen Gunzenhausen. Als das Paar 1946 nach Amerika zieht, ist der Vater entsetzt. Eine Freundin von Sylvia Welter berichtet: »Sie sagte, so viel wie in dieser Zeit hätte sie noch nie geweint. Und eines Tages lag ein Flugticket auf dem Frühstückstisch.« Die Scheidung danach war nur noch Formsache.
familienszenen Jerome David Salinger schrieb derweil. Auf den Fänger im Roggen folgten seine Kurzgeschichten über die skurrile jüdische Familie Glass. In diesen fein ziselierten sensiblen Beschreibungen von Beziehungen verletzlicher Seelen geht es zu wie in Woody Allens Filmen: Neurosen und Geschwisterneid, Fürsorge bis zur Überbemutterung und intensiver Familienzusammenhalt. Die Eltern Les und Bessie sind ehemalige Vaudevilleschauspieler, die Kinder, Seymour, Franny, Zooey, Buddy, Walt, Waker und Boo Boo, waren alle einmal berühmte Kinderstars in der Radioshow »Das kluge Kind«. Kleine frühreife und vorlaute Genies mit einem beträchtlichen Hang zur Mystik. Vor allem Seymour, der in Salingers erster Story, Ein herrlicher Tag für Bananenfisch, einem kleinen Mädchen am Strand die deprimierende Geschichte des Bananenfischs erzählt, dann zurück ins Hotelzimmer geht, wo seine Frau, müde vom Gespräch mit ihrer Mutter, eingeschlafen ist, und sich erschießt: Es ist ihre Hochzeitsreise.

Die Glass’ sind Juden, das Jüdische spielt bei ihnen allerdings kaum eine Rolle. Die Kinder sind mehr am Zen-Buddhismus interessiert, oder an der christlichen Mystik, die Franny, entsetzt von der »Phonyness« ihres Verlobten, betend in einem Café zusammenbrechen lässt. Nur einmal wird der jüdische Hintergrund deutlich. In der Geschichte Unten beim Boot sucht »Boo Boo Tannenbaum, geborene Glass« ihren Sohn, der immer wieder davonrennt, ohne dass man weiß warum. Als sie ihn findet, erzählt er ihr, man habe ihn beschimpft: »Sandra hat zu Mrs. Snell gesagt – Papa ist ein großer schlampiger – kike.« (Kike ist ein amerikanisches Schimpfwort für Juden.) Und obwohl der Junge das Wort nicht verstanden hat – »Das ist so ein Ding, das in die Luft steigt« (kite: ein Flugdrache –): »Da war Boo Boo schon zusammengezuckt.«

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