Finale

Der Rest der Welt

Nicht weit von mir entfernt wohnt ein sefardischer Rabbiner. Ich denke zumindest, dass er Rabbiner ist. Er hat einen langen schwarz-weißen Bart und ist nicht von hier. Vor einem Jahr wurde er aus der Gemeinde gekickt, weil er keine Gemeindesteuer bezahlen möchte. Er grüßt alle Menschen im Quartier, Juden, Nichtjuden, Hund, Katze. Ich glaube, er ist ein bisschen meschugge. Vor einem halben Jahr hat ihn dann noch seine Frau verlassen. Jetzt wohnt er alleine und ist noch schrulliger geworden.

Mit allen Menschen kommt er ins Gespräch. Mit dem Araber schimpft er über die heutige Jugend, mit dem Gemüsehändler jammert er über die zu hohen Importzölle der EU, und mit mir beginnt er immer darüber zu diskutieren, ob man in meiner Straße nicht eine Synagoge bauen könnte. Ich habe ein Herz für Menschen wie ihn und antworte immer bejahend. Unbedingt, stimme ich ihm zu, hier wäre eine Synagoge optimal. »Hazlacha raba«, viel Erfolg, rufe ich ihm zu und eile zum Bus.

Ruine Vor einem Monat hielt er meine Hand fest. »Komm«, raunte er mir zu, »komm, ich will dir was zeigen!« Er führte mich zur anderen Straße und zeigte auf ein Gebäude: »Habe ich letzte Woche gekauft!« Beim Haus handelt es sich um eine Ruine, die immer wieder von Jugendlichen besetzt wird und der Schandfleck unseres gepflegten Quartiers ist. Daraus will der meschuggene Rabbiner eine Synagoge bauen. Ängstlich folgte ich ihm ins Innere.

Zementsäcke und Unrat lagen herum. Er stank erbärmlich, und bei der Wendeltreppe fehlten zwei Stufen. »Da oben werden die Frauen beten.« Er zeigte auf ein verwühltes Zimmer. Wieder wollte ich ihm »Hazlacha raba« wünschen, doch diesmal ließ er meine Hand nicht los. »Du kannst doch Deutsch, schreibe in der Zeitung, dass wir noch acht Männer für den Minjan brauchen. Sie sollen sich bei dir melden. Mach das, mein Freund!«

Ich überlegte lange. Dann fragte ich ihn zögernd, ob er nicht warten möchte, bis zumindest die Treppe repariert ist und wenigstens eine Toilette funktioniert. Er wurde wütend. Warum gute Treppe? Im zweiten Stock werden doch die Frauen beten! Warum soll er für Frauen, die ihn verlassen, eine schöne Treppe bauen? Und draußen, im Garten, da steht doch ein mobiles Klo! So ganz unrecht hatte er nicht, das musste ich zugeben.

Klo Die Tage verstrichen. Natürlich habe ich kein Inserat aufgegeben. Doch mit jedem Tag, der meinerseits untätig verstrich, wurde er wütender. Ich möge doch endlich ein Inserat beisteuern. Die Treppe hätte er übrigens notdürftig selbst repariert, und im Garten stünde jetzt auch ein zweites mobiles Klo für die undankbaren Frauen.

Am liebsten hätte ich den Rabbi mitsamt den Klos auf den Mond geschossen. Doch letzte Woche hat meine Frau mit mir gestritten. Über irgendetwas. Ich lief nach draußen, um Luft zu schnappen. Da sah ich den Rabbiner. »Komm«, rief er mir zu, »lass uns Mincha in unserer neuen Synagoge beten!« Das tat ich dann auch. So beteten wir zwei, frauengeplagte Männer, in dieser Bruchsynagoge. Die Treppe ist noch immer kaputt und ein Klo verstopft. Ich suche jetzt aber trotzdem acht weitere Männer. Hätten Sie Interesse?

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  07.11.2025