Finale

Der Rest der Welt

Denkmal der Kindertransporte in Berlin Foto: Mike Minehan

Mein Vater hatte einen Cousin. Ich nenne ihn hier Brian, obwohl er in Wirklichkeit anders hieß. Brian lebte mit seiner Familie in London. Als Kinder haben wir wunderbare Urlaube in seinem Cottage auf dem Land verbracht. Brian hieß mit Nachnamen eigentlich Goldmann, so wie wir.

Aber er hat seinen Namen geändert, damit er weniger jüdisch klingt. Ich fand als Kind, dass Brian ein Feigling war. Ich sagte ihm einmal, dass er zu seinem Judentum stehen und wieder unseren Familiennamen annehmen solle. Brian versicherte, er denke ernsthaft darüber nach. Aber er blieb bei der anglisierten Fassung.

Kuss Als ich 16 war, hat mir Brian einmal bei einem Besuch in Deutschland einen Kuss gegeben, der ein bisschen länger dauerte als nötig. Später, als ich in Jerusalem studierte, hat er mich zusammen mit seiner Frau besucht. Noch Jahre danach haben die beiden nicht nur mit meinen Eltern, sondern mit der gesamten Verwandtschaft über meine WG gelästert. Wie ich nur auf die Idee kommen konnte, Gäste in ein solches Chaos einzuladen! Ich war ziemlich sauer auf Brian.

Was ich damals nicht wusste: Brian war Zeitzeuge. Er hat als Kind die »Kristallnacht« in Berlin miterlebt und kam mit einem Kindertransport nach England. Meine Eltern haben mir das erst erzählt, als ich über 30 war. Als ich auf die Idee kam, Brian auf seine Erlebnisse anzusprechen, war er schon tot. Ich habe sehr bedauert, ihn nie gefragt zu haben, wie er sich an diese Nacht erinnert. Meine Eltern sagten, er habe niemals gerne darüber gesprochen. Mit niemandem.

Ich habe auch bedauert, dass ich ihn wegen der Namensänderung verurteilt hatte. Wusste ich denn, welche Angst Brian gehabt hatte? Hatte ich gesehen, was er sehen musste? Hatte ich wahrgenommen, was der Dichter Paul Celan beobachtet hat, der am 9. und 10. November 1938 von Krakau über Berlin nach Frankreich reiste, um dort sein Studium anzutreten? In einem Gedicht schrieb er darüber: »am Anhalter Bahnhof floß deinen Blicken ein Rauch zu,/der war schon von morgen«. Manches im Leben versteht man vielleicht erst spät. Wie den 9. November.

BAP Als Kind war für mich »Kristallnacht« ein Lied von BAP. Den Text kapierte ich nur zur Hälfte. Die Musik fand ich gut, aber wenn der Song im Radio gespielt wurde, war es mir unangenehm. Im Fernsehen gab es am 9. November Reden. Dass Synagogen zerstört wurden, konnte ich mir nicht wirklich vorstellen. Beten gehörte nicht zu unserem Alltag, und in Ulm, wo ich aufgewachsen bin, gingen wir nie in die Synagoge. Es gab dort in meiner Kindheit auch keine Synagoge. Sie war am 9. November zerstört worden. Eine neue Synagoge wurde erst später wieder eingeweiht.

Weil ich Brian nicht mehr fragen kann, spreche ich heute gerne mit Zeitzeugen. Ich empfinde jedes einzelne Interview als Geschenk. Ich befrage Menschen, die als Kinder die »Kristallnacht« erlebt haben, nach ihrer Erfahrung und schreibe ihre Antworten auf. Aber das, was am 9. November 1938 seinen Anfang nahm, kann ich auch heute nicht begreifen.

Antisemitismus

Kanye Wests Hitler-Song »WW3« ist Hit auf Spotify

Der Text ist voller Hitler-Verehrung, gleichzeitig behauptet der Musiker, er könne kein Antisemit sein, weil er schwarz sei

 11.05.2025

Ruth Achlama

»Alles ist schön und gut? Das wäre gelogen«

Die Übersetzerin über Beziehungsratschläge für Deutsche und Israelis, israelische Autoren auf dem deutschen Buchmarkt und Erzählungen von Chaim Nachman Bialik

von Ayala Goldmann  11.05.2025

Meinung

Codewort: Heuchelei

Nemo fordert den Ausschluss Israels beim ESC in Basel. Damit schadet der Sieger des vergangenen Jahres der Schweiz und der eigenen Community

von Nicole Dreyfus  11.05.2025

Reaktionen

»Ihr Vermächtnis ist Mahnung und Verpflichtung«

Der Tod der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer ist in Politik und Gesellschaft mit großer Trauer aufgenommen worden

 11.05.2025

Aufgegabelt

Dattelrollen

Rezepte und Leckeres

 11.05.2025

Eurovision Song Contest

Vorjahressieger Nemo gegen Teilnahme Israels am ESC

Für Israel tritt die Sängerin Yuval Raphael an, die die Terroranschläge auf Israel am 7. Oktober 2023 überlebte

 10.05.2025

Berlin

Margot Friedländer: Levit kämpft bei Deutschem Filmpreis mit Tränen

Beim Deutschen Filmpreis nutzt Igor Levit die Bühne, um der verstorbenen Holocaust-Zeugin Margot Friedländer zu gedenken. Dabei muss der Starpianist mehrmals um Fassung ringen. Im Saal wird es still

 09.05.2025

Porträt

Ein Jahrhundertleben

Tausende Schüler in Deutschland haben ihre Geschichte gehört, noch mit über 100 Jahren trat sie als Mahnerin auf. Margot Friedländer war als Holocaust-Zeitzeugin unermüdlich

von Verena Schmitt-Roschmann  09.05.2025

Nachruf

Trauer um Holocaust-Überlebende Margot Friedländer 

Mit fast 90 kehrte Margot Friedländer zurück nach Berlin, ins Land der Täter. Unermüdlich engagierte sich die Holocaust-Zeitzeugin für das Erinnern. Nun ist sie gestorben - ihre Worte bleiben

von Caroline Bock  09.05.2025