Finale

Der Rest der Welt

Es steht im Talmud geschrieben, dass die Eheschließung zwischen Mann und Frau ähnlich schwierig ist wie die Spaltung des Schilfmeeres. Mit diesem Spruch wird das junge Pärchen häufig geplagt. Man versucht, den jungen Eheleuten einzureden, dass sie dankbar sein sollen, überhaupt jemanden gefunden zu haben, und dass Ehestreit nur peinlich wirkt im Angesicht dessen, was die Heiratskuppler alles unternommen haben!

Meine Frage ist die: Wie sieht das eigentlich bei Sitznachbarn aus in der Synagoge? Wird da auch ein bisschen nachgedacht oder geschieht das per Los? Momentan neige ich dazu, letztere Möglichkeit anzunehmen. Diesen Schawuot saß ich nämlich neben einem Herrn, der mir nicht guttat. Nennen wir ihn Stinki. Der Mann ist ein bisschen älteren Jahrgangs. Ich bin so erzogen worden, dass ich alten Menschen den Sitz anbiete und meine Wünsche den ihrigen unterordne. Manche nennen das Galanterie, für mich ist das selbstverständlich. Steht denn nicht irgendwo: »Ehret das Alter«?

Und Stinki ist alt. Leider ist auch seine letzte Dentalhygiene älteren Datums. Es roch deswegen sehr abgestanden aus seinem Munde. Zuerst dachte ich, jemand hätte gepupst. Als der faulige Geruch jedoch längere Zeit herumwaberte und ich aus Versehen ins Epizentrum des Gestankes geriet, wurde mir nicht nur schlecht, da begann ich auch die Verfasser der seitenlangen Gebete zu hassen.

schokoriegel Natürlich hütete ich mich, irgendetwas zu sagen oder anzudeuten. Schließlich bin ich ein wohlerzogener junger Mann. Doch es wurde nicht besser. Linderung kam nur dann auf, wenn Stinki in die andere Richtung guckte und den anderen Nachbarn plagte. »Oh Gott, was soll ich nur tun?«, dachte ich und guckte in Richtung des Toraschreins. Dort sah ich ein kleines Fenster geöffnet. Aber das half mir gar nichts.

Während der Toravorlesung geschah dann Folgendes: Stinki nahm sich zwei Schokoriegel und lutschte an ihnen. Er versuchte das im Geheimen zu machen, weil man eigentlich in der Synagoge nichts essen darf. Aber dank seines langsamen und intensiven Lutschen roch es in unserer Sitzreihe bald wie in einer Schweizer Schokoladenfabrik. »Mist«, murmelte ich vor mich hin, »kann es denn noch schlimmer werden?«

Es konnte. Denn Stinki ging während der Lesung der Haftara nach draußen und rauchte zwei, drei Zigaretten. Als er wieder reinkam, stank es nach Tabak, Schokolade und faulen Eiern. Am liebsten hätte ich meinen Kopf gegen eine Säule gerammt. Aber natürlich habe ich wieder nichts gesagt. Sie wissen: meine gute Erziehung.

Stinki war derweil mit sich und der Welt zufrieden und lächelte mich an. Ich grinste höflich zurück und dachte an die Juden, die vor vielen, vielen Jahren die Tora am Berg Sinai erhielten. Die waren ja alle ungeduscht, und trotzdem hat sich keiner von ihnen beschwert. Ja, das stimmt, eigentlich. Mhm. Ja. Am zweiten Tag Schawuot blieb ich dann aber trotzdem zu Hause.

TV-Tipp

Ein Skandal ist ein Skandal

Arte widmet den 56 Jahre alten Schock-Roman von Philip Roth eine neue Doku

von Friederike Ostermeyer  18.11.2025

Jubiläum

Weltliteratur aus dem Exil: Vor 125 Jahren wurde Anna Seghers geboren

Ihre Romane über den Nationalsozialismus machten Anna Seghers weltberühmt. In ihrer westdeutschen Heimat galt die Schriftstellerin aus Mainz jedoch lange Zeit fast als Unperson, denn nach 1945 hatte sie sich bewusst für den Osten entschieden

von Karsten Packeiser  18.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  18.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  18.11.2025

Literatur

John Irvings »Königin Esther«: Mythos oder Mensch?

Eigentlich wollte er keine langen Romane mehr schreiben. Jetzt kehrt er zurück mit einem Werk über jüdische Identität und Antisemitismus

von Taylan Gökalp  18.11.2025

TV-Tipp

»Unser jüdischer James Bond«

Die Arte-Doku »Der Jahrhundert-Spion« erzählt die schillernde Lebensgeschichte des Ex-CIA-Agenten Peter Sichel, der seinerzeit den Ausbruch des Kalten Kriegs beschleunigte

von Manfred Riepe  17.11.2025

Miss-Universe-Show

Miss Israel erhält Todesdrohungen nach angeblichem Seitenblick

Auch prominente Israelis sind immer öfter mit Judenhass konfrontiert. Diesmal trifft es Melanie Shiraz in Thailand

 17.11.2025

Aufgegabelt

Noahs Eintopf

Rezepte und Leckeres

 16.11.2025

Kunst

Illustrationen und Israel-Hass

Wie sich Rama Duwaji, die zukünftige »First Lady von New York«, auf Social Media positioniert

von Jana Talke  13.11.2025