Berlinale

»David und Eitan sind mit meinem Leben verankert«

Regisseur Tom Shoval erhielt den Ophir Award für den besten Dokumentarfilm: »A Letter To David« dreht sich um die Geisel David Cunio. Foto: Marco Limberg

Herr Shoval, die Berlinale-Chefin Tricia Tuttle hatte vor Beginn der Berlinale angekündigt, sich entschuldigen zu wollen. Hat sie das bereits getan? 
Sie muss sich ehrlich gesagt nicht entschuldigen, weil es nicht ihre Schuld war, was im vergangenen Jahr passiert ist. Sie hat die Notwendigkeit anerkannt, dass es vielleicht anders hätte laufen sollen. Aber ich fand, dass Tricia so einfühlsam war, und ihre Reaktion auf den Film war so herzerwärmend und ehrlich, dass ich wirklich von ihrer Großzügigkeit und ihrer Menschlichkeit beeindruckt war. Dafür danke ich ihr sehr. Auch, dass sie den Film umarmt hat, die Situation akzeptiert und sie als das anerkannt hat, was sie ist.

Am Eröffnungsabend las Tilda Swinton einen Brief an die Menschlichkeit vor. Haben Sie den gehört?
Nicht wirklich, nur eine Zusammenfassung. Sie hat ihn aber wohl nicht auf irgendein Land bezogen, sondern sie hat eher allgemein gesprochen. 

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Um auf Ihren Film zu sprechen zu kommen, »A Letter to David«. In welcher Situation waren Sie, als Sie beschlossen haben, diesen Film zu drehen?
Es war nach dem 7. Oktober 2023, und als mir bewusst wurde, was mit David und Eitan passiert war, habe ich mich sehr hilflos gefühlt. Wissen Sie, beide stehen mir sehr nahe. Und das Wort nahe trifft es nicht einmal sehr gut, denn es waren die beiden, durch die ich mir in meinem Film »Youth« meiner Berufung bewusst geworden bin. Ich war ein Anfänger, sie beiden waren keine professionellen Schauspieler, und ich habe sie gecastet, weil sie diese außergewöhnlich starke Verbindung als Brüder haben. Sie vertrauten mir, sie waren so loyal und offen. Ich habe das Gefühl, dass sie mir diese Zuversicht gegeben haben, weiter Regie zu führen und an mich zu glauben. Sie sehen also, dass es das Wort »nah« nicht ganz trifft. David und Eitan sind mit meinem Leben verankert. Dass das passiert ist, dass sie auseinandergerissen wurden, ist für mich unvorstellbar. Ich fragte mich damals also: Was kann ich tun? Ich meine, ich kann nicht mit ihm reden, ich kann ihn nicht kontaktieren. Mein erster Impuls war, alle anzurufen, die ich kenne, damit sie über David schreiben. Ich stand komplett unter Schock. Nicht nur, weil die Realität so verrückt war, sondern auch, weil ich das Gefühl hatte, dass der Film, den ich mit David und Eitan gedreht habe, mir irgendwie entrissen wurde. Ich kann ihn jetzt nicht mehr so sehen, wie ich ihn sehen wollte. Er hat sich verändert.

Wie hat Eitans und Davids Familie reagiert?
Davor hatte ich große Angst, zugegebenermaßen. Ich sagte mir, wenn sie nein sagen, dann werde ich das nicht tun. Also habe ihnen erklärt und beschrieben, was ich vorhabe, dass ich noch nicht genau weiß, wo ich damit hin will, aber dass ich eine Idee habe. Mir ist es wichtig, dass sie daran teilhaben, dass sie alles wissen, was passiert. Sie sagten mir, dass sie mir vertrauen, dass ich den Film so mache, wie ich denke. Das war so großherzig, und ich bin so voller Dankbarkeit. Es ist somit ein Brief von uns allen. Jeder schreibt ihn: seine Eltern, Eitan, seine Frau Sharon, und. Wir weinen alle, wir rufen nach ihm und versuchen ihm zu sagen, wie sehr wir ihn lieben und dass wir ihn zurückhaben wollen.

Es gibt diese eine Szene im Film, in der Eitan schildert, dass es ihn fast zerreißt, dass es ihn quält, Davids eineiiger Zwilling zu sein – ihm damit zum Verwechseln ähnelt. Sein Gesicht ist gezeichnet von Sorge und unvorstellbarem Kummer. Wie ist Ihr Kontakt gerade zu ihm?
Wir schreiben oder reden ab und zu. Aber, wissen Sie, es gibt nicht viel zu sagen, denn man kann wirklich in seinem Gesicht ablesen, was er fühlt. Man kann den Horror sehen, den er durchgemacht hat. Man sieht, dass ein Teil von ihm fehlt. Es gibt doch diese Redewendung: Ein Schatten seiner selbst. Ich hatte sie damals gecastet, weil sie sich so ähnlich sind, dass man keinen Spiegel braucht, um zu sehen, wie es dem anderen geht. David und Eitan können sich ineinander sehen. Jetzt ist dieses Spiegelbild des anderen weg. Eine Hälfte fehlt. Das ist sehr, sehr schwer. Und das Leben geht ja nicht einfach weiter. Bevor David und Ariel (sein jüngerer Bruder) nicht zurückkommen, kann Eitan nicht wirklich mit seinem Leben weitermachen. Das gilt für die ganze Familie. Für Sharon, Davids Frau. Auch für mich. Ich meine, ich habe das Gefühl, dass man nicht einfach ins Leben zurückkehren und weiterleben kann, wenn man weiß, dass David immer noch Geisel ist.

Sie haben für den Film Videos verwendet, die David und Eitan selbst gedreht haben. Home-Videos, könnte man sagen. Die verschwanden dann in einer Box und waren lange Zeit fast vergessen.
Ja, die PR-Abteilung bei »Youth« dachte, es wäre interessant, wenn wir zeigen, wie zwei Jungs aus dem Kibbuz Schauspieler werden. Halt diese beiden Kibbuzniks aus dem Süden, die sonst keinerlei Verbindung zum Kino oder zur Schauspielerei haben. Wir gaben ihnen also kleine Kameras und sagten: Filmt euch mal selbst. Wir hielten dann auch Momente bei den Proben fest oder eben das Vorsprechen. Und wie das oft so ist, irgendwann braucht man dieses ganze Material nicht mehr – es landete also in einer Kiste. Als ich anfing, »A Letter to David« zu drehen, fand ich die Videos wieder. Das, was damals dann niemand mehr haben wollte, ist jetzt die wichtigste Sache der Welt.

Als wir uns vor elf Jahren zum Interview für »Youth« trafen, waren David und Eitan mit in Berlin. Sie waren dann noch etwas zusammen unterwegs, um den Film zu promoten. Was geschah danach?
Ich weiß noch, dass David mich fragte: ›Was passiert jetzt?‹. Ich sagte, dass der Film im Kino laufen würde, und das war’s. Die beiden dachten darüber nach, mit der Schauspielerei weiterzumachen. Ich sagte ihnen, dass sie ihre Sache wirklich sehr gut gemacht hätten und sie fragten, ob wir denn dann wieder zusammenarbeiten würden. Aber das ging nicht, denn als Schauspieler müssen sie zu anderen Castings; nicht jeder im Film sucht Brüder. Sie dachten darüber nach, aber das Zusammensein, das Nicht voneinander getrennt sein, das war ihnen wichtig. Also gingen sie zurück in den Kibbuz.

Eigentlich ist das ja wirklich sehr bodenständig und auch sehr sympathisch.
Ist es. Ich meine, wir hielten natürlich den Kontakt zueinander; David und Eitan luden mich zu ihren Hochzeiten ein, wir schickten uns Kurzmitteilungen, telefonierten, aber jeder lebte sein Leben auch weiter. Ich glaube, ich hatte nie die Gelegenheit, David zu sagen, wie viel er mir bedeutet, und wie wichtig die Schauspielerei von David und Eitan für mich war. Mein Wunsch ist einfach nur, dass er frei kommt. Mein Wunsch ist, dass er Gelegenheit hat, diesen Film zu sehen. Ich möchte, dass er ihn sieht. Wenn er zurückkommt, wird dieser Film eine richtige Schlussszene bekommen.

Mit dem Regisseur sprach Katrin Richter.

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