Erzählungen

Das Lied vom Seifensieder

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Das Lied vom Seifensieder

Andor Endre Gelléris atemberaubend eindringliches Buch führt in das Budapest der Zwischenkriegszeit

von Marko Martin  02.04.2019 12:45 Uhr

Es gibt kaum Hoffnung für die Menschen in Andor Endre Gelléris Erzählungen. Sie leben im Budapest der prekären Zwischenkriegszeit und schuften – ganz wie ihr Autor – in Berufen, die uns heute exotisch erscheinen: Seifensieder, Webergeselle, Waschmeister, Bronzegießer, Kesselwärter. Ob sie nach getaner Abend mitunter in die Synagoge oder in die Kirche gehen, erfährt man nicht, denn keinerlei spirituelles Licht erhellt ihre Existenz, schon gar nicht die sogenannte »Flamme der Revolution«.

In einem autobiografischen Fragment macht sich Gelléri, 1906 geborener Sohn einer jüdischen Arbeiterfamilie, skrupulös Gedanken über seine vermeintlich fehlende Konsequenz: »Warum bin ich nur ein geheimer Revolutionär?« Die Antwort findet sich in seinen Prosastücken, die im Budapest Ende der 20er- und Anfang der 30er-Jahre in zahlreichen Zeitschriften erschienen und viel gelesen wurden, ohne dass sie dem Autor ein erträgliches Einkommen garantiert hätten. Dem Berliner Guggolz Verlag, spezialisiert auf verborgene Meisterwerke, ist es zu verdanken, dass dieser Schriftsteller nun auch im deutschen Sprachraum zu entdecken ist.

Seit Hesse hat niemand mehr so eindringlich das Körper und Seelen Zerstörende miserabel bezahlter Fabrik- und Erwerbsarbeit beschrieben.

HALBSÄTZE Die Übersetzung von Timea Tankó hält genau die Balance zwischen oft geradezu physisch schmerzendem Sozialrealismus und einer feinen, nie wohlfeil-kitschigen Poesie, die zumindest in Halbsätzen die Ahnung eines anderen Lebens bewahrt, die Erinnerung an Würde und an ein kleines Lächeln. Nicht zufällig bezeichnet man in Ungarn Gelléris feinen, solitären Stil als »feenhaften Realismus«. Hierzulande hingegen hat wohl seit Hermann Hesses Unterm Rad oder Falladas Kleiner Mann – was nun? niemand mehr so eindringlich und gleichzeitig verwundert-präzis das Körper und Seelen Zerstörende miserabel bezahlter Fabrik- und Erwerbsarbeit beschrieben.

Dem Nachwort von György Dalos, dem in Berlin lebenden Budapester Schriftsteller und unermüdlichen Vermittler, ist es zu verdanken, dass wir Leser nun wenigstens um die Solidarität wissen, die Andor Endre Gelléri schließlich doch noch erfuhr. Es war nämlich mit Gyula Illyés der Grandseigneur der ungarischen Literatur, der die Spalten seiner Literaturzeitschrift für Gelléri geöffnet hatte, als im antisemitischen Horthy-Ungarn jüdische Autoren bereits längst nicht mehr gelitten waren.

Zu entdecken ist ein tapfer-empathischer Mensch – und ein großer Autor.

Doch ebenso wie seine (zuvor ebenfalls durch jene Zeitschriften-Publikationen fragil geschützten) Schriftsteller-Kollegen Miklós Radnóti und Antal Szerb würde auch der Chronist von Budapests vermeintlich »kleinen Leuten« schließlich den Einmarsch der Wehrmacht und der SS nicht überleben. Radnóti wurde im November 1944 ermordet, Szerb im Januar 1945. Gelléri kam mit einem der Todesmärsche ins KZ Mauthausen, erlebte noch die Befreiung des KZs durch amerikanische Truppen, starb jedoch kurz darauf entkräftet an einer Fleckentyphus-Infektion.

GEDICHTE Sein Grab ist heute nicht mehr auffindbar, doch so wie später bei einer Massengrab-Exhumierung in Miklós Radnótis Kleidung dessen letzte Gedichte entdeckt worden waren, erweisen sich auch Andor Endre Gelléris Erzählungen stärker als die Indifferenz der vergehenden Zeit.

»Gelléris Werk«, schreibt der 1943 geborene György Dalos, »wirkte auf spätere Generationen ungarischer Prosaiker weiter. Literaturforscher stoßen immer wieder im Blätterwald der Vorkriegszeit auf vergessene Erzählungen, sodass sein OEuvre posthum wächst.« Zu entdecken ist ein tapfer-empathischer Mensch – und ein großer Autor.

Andor Endre Gelléri: »Stromern«. Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Guggolz, Berlin 2018, 272 S., 24 €

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