Anekdotisches

Bei Gregor Samsa im Flur

Prag, Niklasstraße 36: Wohnhaus der Familie Kafka Foto: imago

»Manchen macht er Angst. Manche, die ihn nicht lesen, über ihn aber reden hören, fürchten bloß, dass er ihnen Angst macht. Andere macht er traurig, ohne dass sie zu sagen wüssten, warum.« Wer ein Buch so einleitet, hat vor, diese Vorbehalte zu entkräften. Aber Rainer Stach hütet sich, Kafka zum 10.000sten Mal literaturwissenschaftlich zu feiern, seine »labyrinthisch anmutenden Gedankenschleifen, aus denen es kein Entrinnen gibt«, noch einmal nachzuzeichnen.

Er schreibt auch nicht den dritten Band seiner Kafka-Biografie, auf den alle warten, der die Kindheit und Jugend sowie die ersten Schritte Kafkas als Autor behandeln wird. Auf den müssen wir warten, bis der vor einem Gericht in Jerusalem anhängige Streit um den Nachlass von Kafkas Jugendfreund Max Brod beendet ist und die wichtigsten Quellen für diesen Lebensabschnitt vorliegen.

hebräisch-unterricht In der Zwischenzeit hat Stach aus seinem überbordenden Fundus 99 Fundstücke zu Kafka unter dem Titel Ist das Kafka? zusammengestellt. Eines führt uns in die Prager Niklasstraße. Wir sehen das Haus mit der Nummer 36, das im Krieg zerstört wurde, in einer alten Fotografie. In der vierten Etage wohnte die Familie Kafka. Stach präsentiert einen von Hartmut Binder nachgezeichneten Grundriss der Wohnung und markiert die Stelle, »von der aus Gregor Samsa, zum ersten Mal auf seinen vielen Beinchen stehend, dem ins Treppenhaus flüchtenden Prokuristen nachblickt«.

Wenig bekannt ist, dass Kafka 1923 Hebräischunterricht bei einer jungen, aus Palästina zum Studium nach Prag gekommenen Frau namens Puah Ben-Tovim nahm. Sie zog dann nach Berlin weiter. Zwei Briefentwürfe Kafkas an seine Lehrerin sind erhalten, aus denen wir erfahren: Die korrekte hebräische Schreibweise von »Europa kannte er nicht, er schrieb das Wort nach Gehör«.

roulette In einer Tagebucheintragung vom August 1911 findet Stach für uns die Skizze eines Spieltischs im Kursaal von Luzern, den Kafka zusammen mit Brod besuchte und an dem sie die Reisekasse verspielten. 45 Jahre nachdem Dostojewski in Wiesbaden dasselbe passiert war, – kannte Kafka dessen Roman Der Spieler nicht? Zwei Jahre zuvor hatte er, wiederum mit Max Brod, ein »Flugmeeting« in der Nähe von Brescia besucht, das offenbar einen nachhaltigeren Eindruck als der Spieltisch bei ihm hinterließ: Kurz darauf, im September veröffentlichte Kafka in der Prager Zeitung Bohemia 1909 den Text Die Aeroplane von Brescia. Stach zeigt ein zeitgenössisches Foto von dem Flugmeeting, »auf dem mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Kafka zu sehen ist. Deutlich zu erkennen sind die etwas abstehenden Ohren.«

Rainer Stachs 99 Fundstücke ermöglichen es tatsächlich allen, die Furcht vor Kafka haben, den Prager Schriftsteller jenseits der herkömmlichen deutschen Bedeutungsschwere neu zu lesen. Und zu genießen: seinen Humor, seine Lebenslust, sein schallendes Lachen und seine seltenen Tränen.

Rainer Stach: »Ist das Kafka? 99 Fundstücke«. S. Fischer, Frankfurt/M. 2012, 336 S., 19,99 €

Nachruf

Filmproduzent mit Werten

Respektvoll, geduldig, präzise: eine Würdigung des sechsfachen Oscar-Preisträgers Arthur Cohn

von Pierre Rothschild  15.12.2025

Meinung

Xavier Naidoos antisemitische Aussagen? Haken dran!

Der Mannheimer Sänger füllt wieder Konzertsäle. Seine Verschwörungserzählungen über Juden und holocaustrelativierenden Thesen scheinen kaum noch jemanden zu stören

von Ralf Fischer  15.12.2025

Los Angeles

Bestürzung über Tod von Rob Reiner und Ehefrau Michele

Der jüdische Regisseur und seine Frau wurden tot in ihrem Haus aufgefunden. Die Polizei behandelt den Fall als mögliches Tötungsdelikt

 15.12.2025

Justiz

Gericht: Melanie Müller zeigte mehrmals den Hitlergruß

Melanie Müller steht erneut vor Gericht: Die Schlagersängerin wehrt sich gegen das Urteil wegen Zeigens des Hitlergrußes und Drogenbesitzes. Was im Berufungsverfahren zur Debatte steht

von André Jahnke  14.12.2025

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  14.12.2025

Nachruf

Trauer um Hollywood-Legende Arthur Cohn

Arthur Cohn war immer auf der Suche nach künstlerischer Perfektion. Der Schweizer Filmproduzent gehörte zu den erfolgreichsten der Welt, wie seine Oscar-Ausbeute zeigt

von Christiane Oelrich  12.12.2025

Computerspiel

Lenny Kravitz wird James-Bond-Bösewicht

Als fieser Schurke will der Musiker im kommenden Jahr dem Agenten 007 das Leben schwer machen – allerdings nicht auf der Kinoleinwand

 12.12.2025

Berlin

Jüdisches Museum bekommt zusätzliche Förderung

Das Jüdische Museum in Berlin gehört zu den Publikumsmagneten. Im kommenden Jahr feiert es sein 25. Jubiläum und bekommt dafür zusätzliche Mittel vom Bund

 12.12.2025

Aufgegabelt

Latkes aus Dillgürkchen

Rezepte und Leckeres

 12.12.2025