Sachbuch

Auf der Spur der wahren Germanen

Archäologen untersuchen ein 1000 Quadratmeter großes Areal auf dem Gelände des archäologischen Varusschlacht-Museums Kalkriese. Foto: picture alliance / Friso Gentsch/dpa

Karl Banghard ist Prähistoriker. Der Leiter des Archäologischen Freilichtmuseums im lippischen Oerlinghausen befasst sich mit der Geschichte der Menschheit in einer Zeit, zu der kaum schriftlichen Aufzeichnungen vorliegen. Doch manchmal wird auch so ein weit zurückliegender Forschungsgegenstand hoch politisch.

Im Fall von Banghard sind es die Germanen. Als Chef des 1936 von den Nationalsozialisten gegründeten Freilichtmuseums im Teutoburger Wald, das unter anderem ein Germanengehöft zeigt, hat der Historiker sehr genau im Blick, wie sehr die Germanen von der römischen Zeit bis zu den Nazis immer wieder politisch instrumentalisiert wurden.

Mit der Realität wenig zu tun

Blond, blauäugig und todesmutig: Bis in die jüngste Vergangenheit hinein wurde nach Angaben des Historikers munter drauflosgedichtet, wenn es um jene Menschen ging, die in der Zeit zwischen Christi Geburt und dem fünften Jahrhundert auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik lebten. In seinem am Freitag bei Propyläen erschienenen Buch »Die wahre Geschichte der Germanen« beschreibt der Historiker, warum Römer von Caesar bis Tacitus und radikale deutsche Nationalisten im 19. Jahrhundert Bilder von den Germanen - den »ersten Deutschen« - zeichneten, die mit der Realität wenig zu tun hatten.

Mythen und Ideologien hätten das Bild der Germanen jahrhundertelang verzerrt, schreibt er. Und verweist darauf, wie kurz der Weg vom Kult um die Germanen über das völkische Denken bis zum Antisemitismus und zum Holocaust war - und wie sehr Rechtsradikale und völkische Kreise noch heute ein verqueres Germanenbild nutzen, um für sich zu mobilisieren: durch Runen-Symbole und Kleidung, in der Musik und religiös angehauchten Sonnenwendfeiern.

Germanen haben sich nicht als ein Volk verstanden

»Hätte man einen Menschen im Teutoburger Wald um die Zeitenwende nach seinem Stamm gefragt, wäre die Antwort ›Cherusker‹ gewesen. Nicht ›Germane‹ «, schreibt Banghard. Denn die Bezeichnung »Germane« war nach seinen Worten eine grobe Vereinfachung der Römer. Die vermeintlichen »Ur-Deutschen« waren immer schon eine Projektionsfläche. Sie wurden wechselweise als todesverachtende Freiheitskämpfer verehrt, zu fortschrittskritischen Naturliebhabern verklärt oder als dauersaufende und kulturlose Knüppelschwinger verunglimpft. Wer die Germanen wirklich waren, wie sie lebten, Handel trieben, kristallisiert sich erst jetzt heraus.

Der Autor will ein Gegenbild vermitteln: Dass das möglich ist, liegt vor allem an der Archäologie, deren neueste Erkenntnisse völkischen Schriften und antiken Quellen teils deutlich widersprechen. Seit Anfang der Neunzigerjahre wurden laut Banghard auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik und in angrenzenden Regionen etwa 200 Siedlungen aus der Zeit der Germanen ausgegraben. Fast wöchentlich gebe es neue Funde und neue Erkenntnisse über den Alltag der Menschen am Nordostrand des römischen Imperiums, schreibt er in seinem gut lesbaren Buch.

Spurensuche von Norwegen bis Nordafrika

Auskunft geben oft die kleinen, unscheinbaren Dinge: Kochgeschirr, Trinkgefäße und sprachliche Dialekte. Das Buch lädt ein zu einer Reise zu Fundstätten quer durch Europa - von Norwegen bis Nordafrika. Das Ergebnis: Ein gemeinsames Bewusstsein als Germanen gab es ebenso wenig wie gemeinsame germanische Gene. Germanen waren sehr mobil. »Die ewige Schollengebundenheit klebt an den Germanen wie hartnäckiger Lehm«, schreibt Banghard.

Es gibt darüber hinaus einige Eigenschaften, die immer wieder bei germanischen Gruppen aufscheinen: dezentrale Siedlungsstrukturen mit Einzelhöfen, die sich perlschnurartig entlang der großen Bäche und Flüsse reihen. Eine Unlust, sich dauerhaft einem Führer zu unterwerfen. »Flache Hierarchien scheinen den Alltag geprägt zu haben«, heißt es im Buch. Kontrollmechanismen hielten die Macht im Zaum.

Neigung zu Gleichheit

Gemeinschaftlicher Grundbesitz, eine kooperative Nutzung von Weiden und auch eine periodische Umverteilung von Flächen dürften alltäglich gewesen sein, betont er. Und schreibt den Germanen eine »nahezu manische Neigung zur Gleichheit« zu.

Von einem gemeinsamen Germanen-Bewusstsein konnte keine Rede sein. Es gab zahlreiche germanische Gruppen und Einzelstämme, die flexible, von der politischen Großwetterlage beeinflusste Koalitionen bildeten. In Kriegszeiten konnten die vielfältigen Gruppen allerdings schnell auf eine Hierarchie und zentrale Befehlsformen umsteuern.

Banghard, Karl: Die wahre Geschichte der Germanen; Propyläen Ullstein Buchverlage, Berlin 2025, 270 Seiten, ISBN 9783549100905, 22 EUR

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