Reportagen

Albträume bleiben

Albträume plagen Telis Nahmias. »Zwei deutsche Stiefel vor meiner Nase« sieht der 80-Jährige immer wieder im Schlaf. »Für das bekommst du keine Entschädigung«, erzählte der Athener Rechtsanwalt Nina Schulz, der Autorin des Buches Spiel auf Zeit. NS-Verfolgte und ihre Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung. Nahmias kämpft seit Jahrzehnten für die jüdische Gemeinde von Thessaloniki um eine Wiedergutmachung aus Deutschland. Bisher noch immer erfolglos.

38 Millionen Reichsmark pressten die Nazi-Deutschen der Gemeindevertretung ab, um die Männer vor Zwangsarbeit zu retten. Vergeblich: Die Gemeindemitglieder wurden trotzdem deportiert. Fast 50.000 kamen in den Gaskammern von Auschwitz ums Leben.

Thessaloniki Die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki und den Albträumen des Telis Nahmias ist eine von zahlreichen Reportagen und Porträts, die Nina Schulz und die Fotografin Elisabeth Mena Urbitsch in ihrem Buch publiziert haben. »Lebensgeschichten mit Langzeitbelichtung« nennen die Autorinnen die Publikation, die ihren Wert und ihre Klasse nicht zuletzt auch dadurch erzielt, dass sich die Journalistinnen erkennbar Zeit für die Menschen und ihre Schicksale genommen haben.

Man scheut die – fast schon zu banalen – Begriffe wie »bewegend«, »spannend« und »unter die Haut gehend« für diese Sammlung von Reportagen über NS-Verfolgte und ihren Kampf um Anerkennung und Entschädigung, die Schulz vorgelegt hat. Zumal ihre Hamburger Fotografenkollegin Elisabeth Mena Urbitsch die dicht am Menschen geschriebenen Geschichten, um dem Leser einen visuellen Eindruck der Interviewperson zu ermöglichen, nicht nur bebildert, sondern sie mit ihrem subjektiven Blick durch das Kameraobjektiv eigenständig und individuell porträtiert hat.

Erniedrigung Das Schicksal der Menschen beim Streit um wenigstens eine finanzielle Entschädigung für das Leiden hat die Autorinnen kreuz und quer durch Europa bis nach Israel reisen lassen: Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Christen, Kommunisten und Sozialdemokraten, Zwangssterilisierte und Homosexuelle haben Zeugnis über ihre Leiden abgelegt und bei der Suche nach Anerkennung ihrer körperlichen und seelischen Erniedrigung über die Kränkungen bei der Prüfung ihrer Ansprüche auf Wiedergutmachung berichtet.

Bat-Sheva Szwarc musste als Kind im Warschauer Ghetto Zwangsarbeit leisten. Später ging die Schoa-Überlebende nach Israel. Die inzwischen verstorbene Frau war eine von 70.000 Personen, die eine sogenannte Ghettorente nach dem »Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus der Beschäftigung in einem Ghetto« (KRBG) gestellt hatte und die zu den 95 Prozent gehörte, deren Antrag abgelehnt wurde. Peinlich penibel wurde die orthodoxe Jüdin Bella Grünwald von Richtern in Tel Aviv befragt, um ihren Anspruch auf eine Ghettorente zu prüfen. Der Richter will nicht nur wissen, ob die aus Ungarn stammende Frau in einem Ghetto war, sondern ob sie dort möglicherweise »aus eigenem Willensentschluss« gearbeitet habe. Rentenanspruch für lediglich einen Monat Ghettoaufenthalt billigt der Vertreter der Rentenversicherung Bella Grünwald zu. Zynismus pur.

renten Derweil erhalten SS-Männer Renten, auch wenn sie als ausländische Staatsbürger in deutschen Diensten und Teil eines Verbrecherregimes waren. Dem stehen rund 20 Millionen NS-Opfer in Europa und der ehemaligen Sowjetunion gegenüber, die auf Nummern reduziert wurden. Eine Entschädigung für Diskriminierung, Verfolgung, Haft, Folter und Misshandlung von der Bundesrepublik Deutschland, dem Nachfolgestaat des NS-Unrechtregimes, haben sie niemals erhalten.

Die Mehrheit ist inzwischen gestorben. Schulz und Urbitsch haben mit ihren Reportagen einigen wenigen ein Denkmal gesetzt – stellvertretend für viele. Argyris Sfountouris, Überlebender des SS-Massakers am 10. Juni 1944 in Distomo in Griechenland, klagt: »Die deutsche Politik muss sich mit den Opfern als Menschen beschäftigen. Wir sind kein Abstraktum.«

Nina Schulz und Elisabeth Mena Urbitsch: »Spiel auf Zeit. NS-Verfolgte und ihre Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung«. Assoziation A, Hamburg 2016, 366 S., 24 €

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  19.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  19.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  19.11.2025

Magdeburg

Telemann-Preis 2026 für Kölner Dirigenten Willens

Mit der Auszeichnung würdigt die Landeshauptstadt den eindrucksvollen Umgang des jüdischen Dirigenten mit dem künstlerischen Werk Telemanns

 19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

Kino

Unter erschwerten Bedingungen

Das »Seret«-Festival zeigt aktuelle israelische Filmkunst in Deutschland – zum ersten Mal nur in Berlin

von Chris Schinke  19.11.2025

Bonn

Bonner Museum gibt Gemälde an Erben jüdischer Besitzer zurück

Das Bild »Bäuerliches Frühstück« aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird restituiert

 19.11.2025

Perspektive

Humor hilft

Über alles lachen – obwohl die Realität kein Witz ist? Unsere Autorin, die israelische Psychoanalytikerin Efrat Havron, meint: In einem Land wie Israel ist Ironie sogar überlebenswichtig

von Efrat Havron  19.11.2025

New York

Rekordpreis für »Bildnis Elisabeth Lederer« bei Auktion

Bei den New Yorker Herbstauktion ist wieder ein Rekord gepurzelt: Ein Klimt-Gemälde wird zum zweitteuersten je versteigerten Kunstwerk – und auch ein goldenes Klo wird für einen hohen Preis verkauft

von Christina Horsten  19.11.2025