Roman

Abschiedssymphonie für eine Sprache

Ein Panorama jüdischer Kultur im »Jiddischland« des 20. Jahrhunderts Foto: Die andere Bibliothek

Der 1963 in der Nähe von Grenoble geborene, heute in Paris lebende Gilles Rozier ist ein faszinierender Kenner jiddischer Kultur. Er promovierte 1997 in jiddischer Literatur, die er seither an der Universität Paris 7 lehrt. Rozier arbeitet auch als Übersetzer für Jiddisch und Hebräisch und leitet seit 1994 das »Parizer Yidish-Zenter«, das mit seiner Bibliothèque Medem die größte nichtuniversitäre Sammlung jiddischer Werke in Europa besitzt. 2008 gründete er die auf Jiddisch erscheinende literarische Zeitschrift »Gilgulim: Métamorphoses littéraires«, die Werke zeitgenössischer jiddischer Autoren publiziert. Rozier ist auch Verfasser von fünf international beachteten Romanen, deren letzter, 2011 als D’un pays sans amour im Verlag Grasset veröffentlicht, nun auch bei uns unter dem Titel Im Palast der Erinnerung vorliegt.

tatsachenroman Es handelt sich um einen Tatsachenroman, der auf realen Ereignissen und Lebensgeschichten basiert, die vom Verfasser aus privater Perspektive und subjektiven Erzählpositionen beleuchtet werden. Beim Durchblättern stößt man auf ein 1922 im Warschauer Sächsischen Garten aufgenommenes Foto. Es zeigt in fröhlicher Runde die Mitglieder einer unter dem Namen »Khaliastra« (Die Clique) bekannten expressionistischen Schriftstellergruppe, die in Polen die europäische Avantgarde repräsentierte: Mandl Elkim, Perez Hirschbein, Joschua Singer, Uri-Zwi Grinberg (1896–1981), Perez Markisch (1895–1952) und Sacharja-Chone Bergner alias Melech Rawicz (1893–1976). Anhand der drei Letztgenannten und ihrer rekonstruierten Schicksalswege entwickelt Rozier ein ebenso sachkundiges wie fesselndes Panorama der jiddischen Literatur im 20. Jahrhundert.

Grinberg, Sohn eines chassidischen Rabbis, emigrierte 1923 nach Palästina. Markisch, Sohn eines Melamed in einem wolhynischen Schtetl, wurde durch sein Pogromgedicht Di kupe (Der Haufe) zum Wortführer der revolutionären jiddischen Jungdichter in Polen, ging 1926 nach Moskau, gehörte dem Jüdischen Antifaschistischen Komitee an, erhielt 1946 den Stalinpreis und wurde 1952 in der Lubjanka erschossen. Rawicz, von 1912 bis 1921 Bankangestellter in Wien, war im Ersten Weltkrieg Soldat in der österreichischen Armee, bis 1934 Sekretär des Jiddischen Literatenverbandes in Warschau und fand 1941 in Montreal seine neue Heimat.

Es sind diese drei Dichter, die im Roman die fast 100-jährige, in der Bibliothek eines prunkvollen römischen Palastes residierende Sulamita Kaczyne, Tochter des jiddischen Schriftstellers und berühmten Fotografen Alter Kaczyne, dem Vergessen entreißen will. Sie ersteht alle ihr zugänglichen Zeugnisse der vernichteten jiddischen Kultur. Ihre Arbeit nennt sie eine »Abschiedssymphonie«.

jiddischland Wir erfahren dies alles aus einer Fülle von Briefwechseln, kleinen Erzählungen, Anekdoten und Gedichten, in denen Rozier das verloren gegangene Jiddischland in den Landschaften Polens, Weißrusslands, der Ukraine und Österreich-Ungarns wiederentstehen lässt. Sulamita teilt ihre Reminiszenzen, wenngleich anfangs zögerlich, mit Pierre, dem zweiten Ich-Erzähler dieses Romans. Er ist ein entwurzelter Pariser mit polnischen Vorfahren, der nach dem Besuch einer Eliteschule und Arbeit als Banker, die er schnell aufgibt, neben dem Erlernen der jiddischen Sprache nur ein Ziel verfolgt: das Aufspüren der Vergangenheit seiner polnischen Großmutter Anna Janowska, die, wie sich später herausstellt, mit Sulamita identisch ist.

Im Garten der Erinnerung
ist aufwendig gestaltet und penibel lektoriert. Umso bedauerlicher, dass der Verlag nicht die Gelegenheit genutzt hat, synoptisch neben die von Nici Graça und Esther Alexander-Ihme großartig übersetzten auch die originalenTextstellen zu setzen. Und bei der Transliteration der Namen hätte man sich im Falle von Rawicz eine Ausrichtung auf das deutsche Lesepublikum gewünscht, so wie es Armin Eidherr getan hat, der in seiner Übersetzung (Das Geschichtenbuch meines Lebens) von Melech Rawitsch spricht.

Gilles Rozier: »Im Palast der Erinnerung«. Übersetzung aus dem Französischen von Claudia Steinitz und Barbara Heber-Schärer; aus dem Jiddischen von Nici Graça und Esther Alexander-Ihme; aus dem Hebräischen von Ruth Melcer.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2012, 450 S., 38 €

TV-Tipp

Der Mythos Jeff Bridges: Arte feiert den »Dude«

Der Weg zum Erfolg war für Jeff Bridges steinig - auch weil der Schauspieler sich gegen die Erfordernisse des Business sträubte. Bis er eine entscheidende Rolle von den Coen-Brüdern bekam, die alles veränderte

von Manfred Riepe  14.07.2025

Musik

Der die Wolken beschwört

Roy Amotz ist Flötist aus Israel. Sein neues Album verfolgt hohe Ziele

von Alicia Rust  14.07.2025

Imanuels Interpreten (11)

The Brecker Brothers: Virtuose Blechbläser und Jazz-Funk-Pioniere

Jazz-Funk und teure Arrangements waren und sind die Expertise der jüdischen Musiker Michael und Randy Brecker. Während Michael 2007 starb, ist Randy im Alter von fast 80 Jahren weiterhin aktiv

von Imanuel Marcus  14.07.2025

Kino

»Superman« David Corenswet fühlte sich »wie ein Astronaut«

»Ich habe dafür trainiert, ich habe es mir gewünscht, und jetzt liegt die ganze Arbeit vor mir«, sagt der Darsteller mit jüdischem Familienhintergrund

von Philip Dethlefs  14.07.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Superman kommt ins Kino – und wo sind die super Männer?

von Katrin Richter  13.07.2025

Biografie

Schauspieler Berkel: In der Synagoge sind mir die Tränen geflossen 

Er ging in die Kirche und war Messdiener - erst spät kam sein Interesse für das Judentum, berichtet Schauspieler Christian Berkel

von Leticia Witte  11.07.2025

Thüringen

Yiddish Summer startet mit Open-Air-Konzert

Vergangenes Jahr nahmen rund 12.000 Menschen an den mehr als 100 Veranstaltungen teil

 11.07.2025

Musik

Nach Eklat: Hamburg, Stuttgart und Köln sagen Bob-Vylan-Auftritte ab

Nach dem Eklat bei einem britischen Festival mit israelfeindlichen und antisemitischen Aussagen sind mehrere geplante Auftritte des Punk-Duos Bob Vylan in Deutschland abgesagt worden

 10.07.2025

Agententhriller

Wie drei Juden James Bond formten

Ohne Harry Saltzman, Richard Maibaum und Lewis Gilbert wäre Agent 007 wohl nie ins Kino gekommen

von Imanuel Marcus  14.07.2025 Aktualisiert