Interview

»Wir haben keine Zauberformel«

Seit 2004 im Amt: In der Europäischen Union ist Jean Asselborn dienstältester Außenminister. Foto: imago images/ITAR-TASS

Herr Asselborn, Israel hat Frieden mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain geschlossen, bald sollen der Sudan und andere arabische Länder folgen. Ist das ein Durchbruch?
Die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Ländern in der Region ist zu begrüßen. Für die Menschen dort haben diese Abkommen sehr positive Auswirkungen. Außerdem ist zu hoffen, dass die angekündigte Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und dem Sudan eine positive Auswirkung auf die Stabilität in der Region des Horns von Afrika hat.

Sie haben den Emiraten vorgeworfen, ihre »palästinensischen Brüder« im Stich zu lassen. Freuen Sie sich denn nicht über die Entwicklung?
Für die Palästinenser im Westjordanland, in Gaza und in den Flüchtlingslagern der Region hat sich ja nichts verändert. Sie sitzen weiter fest, unter unwürdigen Lebensbedingungen, und sie sehen keinen Ausweg. Daher sehe ich diese »Abraham-Abkommen« eher als einen Versuch von Herrn Trump und dessen Schwiegersohn Jared Kushner, aus der Sackgasse, in die sie sich selbst hineinmanövriert haben, wieder herauszukommen.

Also kein echter Fortschritt?
Ich wünsche mir, dass diese Schritte der arabischen Staaten mittelfristig einer Zweistaatenlösung dienlich sind. Und ich hoffe, dass so die Annexionspläne Israels im Westjordanland auch aus der Sicht von Herrn Netanjahu definitiv vom Tisch kommen und nicht nur aufgeschoben sind. Solange Israel weiter Tausende Siedlungen baut und palästinensische Häuser und Schulen zerstören lässt, bleibt der Friedensprozess blockiert.

Einige behaupten, die EU sei, was den Nahost-Prozess angeht, irrelevant – im Gegensatz zu den USA. Stimmt das?
Angesichts des Holocaust haben wir Europäer eine besondere historische Verantwortung gegenüber Israel sowie Palästina. Wir sind Freunde beider Seiten, und unter Freunden muss man offen miteinander reden können, besonders wenn es um den Respekt vor dem Völkerrecht geht. Aktuell ist der Nahost-Friedensprozess blockiert. Im jetzigen Kontext kann die EU trotzdem, so gut es geht, als »ehrliche Vermittlerin« agieren, was man ja von den USA momentan nicht sagen kann. Wir können die Aussöhnung der Palästinenser unterstützen, die Organisation von Wahlen in den Palästinensergebieten. Das würde der Demokratie in Palästina guttun.

Welcher Demokratie? Seit 2006 hat es dort keine Parlamentswahlen gegeben.
Es gibt Grund zum Optimismus, dass es in den nächsten Monaten zu Wahlen kommen könnte. Der politische Wille der Palästinenser ist hier an erster Stelle gefordert. Allerdings muss dazu auch die israelische Regierung ihren Beitrag leisten. Wie beim letzten Mal muss Israel auch diesmal den 340.000 Palästinensern Ost-Jerusalems, der zukünftigen Hauptstadt Palästinas, die Stimmabgabe ermöglichen.

Was kann die EU sonst noch tun?
Wir können Israel klarmachen, dass die Siedlungspolitik illegal und nicht mit demokratischen Grundwerten vereinbar ist. Auch können wir den Dialog mit den Ländern in der Region fördern. Man darf nicht vergessen, dass ohne die Finanzhilfen aus Europa das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge zusammengebrochen wäre, als die USA die Unterstützung einstellten, um mit humanitärer Politik Druck auf die Palästinenser auszuüben. Und ich denke, wir können weiterhin die friedensstiftende Arbeit der NGOs vor Ort unterstützen.

Die EU unterstützt finanziell Gruppen, die palästinensischen Terrororganisationen nahestehen, sowie Schulbücher, in denen der Hass auf Israel propagiert wird. Ist das Sinn und Zweck der Übung?
Ihre Frage stellt etwas als Fakt dar, was nicht erwiesen ist. Es handelt sich hier um Vorwürfe, die die EU zurzeit anhand einer unabhängigen Untersuchung prüft. Falls Verfehlungen festgestellt werden sollten, bin ich mir sicher, dass Abhilfe geschaffen wird. Auf jeden Fall sollten derartige Vorwürfe nicht dazu missbraucht werden, die gesamte Arbeit palästinensischer NGOs zu diskreditieren oder ihre Unterstützung durch die EU generell infrage zu stellen.

Sollten Ihrer Ansicht nach auch Terrorgruppen wie die Hamas Gesprächspartner der EU werden?
Es führt kein Weg an direkten Verhandlungen zwischen Israelis und den Palästinensern vorbei, wenn man den Konflikt lösen will. Wir haben keine Zauberformel, aber die EU wird sich weiterhin bemühen, um die Wiederaufnahme der Gespräche zu fördern. Mit der Hamas gibt es eine Kontaktsperre auf EU-Ebene. Dies könnte revidiert werden, falls die Hamas sich weg von der Gewalt und hin zur Aussöhnung und Anerkennung des Existenzrechts Israels bewegt.

In Europa ist Israel für viele der Buhmann im Nahen Osten. Einige Kritiker fordern sogar Sanktionen. Was entgegnen Sie?
Man sollte Kritiker der illegalen Siedlungspolitik nicht pauschal als Israelkritiker abstempeln. Laut Völkerrecht sind israelische Siedlungen in besetzten Palästinensergebieten nun einmal illegal. Dies muss klar kommuniziert werden.

In den Gremien der Vereinten Nationen wird ständig nur über die israelische Besatzung diskutiert. Sollte die EU hier nicht auf mehr Ausgewogenheit drängen?
Es liegt in der Natur des UN-Systems, dass alle Mitgliedstaaten ein bestimmtes Thema zur Sprache bringen können. Die israelische Besetzung dauert seit 1967 an. Die Tatsache, dass das Thema innerhalb der Vereinten Nationen weiterhin viel diskutiert wird, zeigt, dass es nichts an seiner politischen und emotionalen Brisanz verloren hat. Nelson Mandela brachte es einmal so auf den Punkt: »Wir wissen nur allzu genau, dass unsere Freiheit ohne die Freiheit der Palästinenser unvollständig ist.«

Aber warum dieser permanente Fokus auf die Palästinenser?
Der Nahostkonflikt ist ja nicht der einzige, der bei der UNO thematisiert wird. Die Tagesordnung des Sicherheitsrats macht das deutlich. Auch die Palästinenser haben das Recht auf einen eigenen Staat, das muss im Fokus der Vereinten Nationen bleiben.

Sie haben vor einiger Zeit die Besetzung des Westjordanlandes durch Israel mit der der Krim durch Russland verglichen und ein ähnliches Handeln durch die EU gefordert. Bleiben Sie bei dieser Aussage?
Mit Verlaub, ich habe nicht die Besetzung des Westjordanlandes mit der Krim verglichen, sondern die von der israelischen Regierung angekündigte Annexion von Teilen des Gebiets. Eine territoriale Annexion ist eine schwerwiegende Verletzung des Völkerrechts – egal, wo sie stattfindet. Sie verstößt gegen die fundamentalen Regeln der multilateralen Weltordnung, deren Förderung und Verteidigung zum Kerngeschäft der EU gehört. Daher können wir Annexionen aus Prinzip nicht akzeptieren. Es geht da um die Glaubwürdigkeit der EU.

Die Führung des Iran ruft regelmäßig zur Vernichtung Israels auf. Aus Brüssel kommt nur selten eine Verurteilung. Warum?
Wenn Teheran zu Gewalt gegen Israel aufruft, dann quittiert die EU das nicht mit Stillschweigen, sondern meldet sich in aller Klarheit zu Wort. Zum Beispiel haben wir im Mai als EU auf inakzeptable Äußerungen des Obersten Führers des Iran, Ayatollah Ali Khamenei, reagiert und seine Drohungen gegenüber Israel scharf verurteilt.

Das Nuklearabkommen mit dem Iran hat dieses Problem aber nicht gelöst.
Da ging es darum zu verhindern, dass der Iran eine Atombombe entwickelt – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Ist dieser Deal nach dem Ausstieg der USA nun Makulatur?
In vielerlei Hinsicht funktioniert das Abkommen weiterhin, auch wenn momentan für beide Seiten die erhofften wirtschaftlichen Vorteile ausbleiben. Wir verschließen keineswegs die Augen vor der aggressiven Politik des Iran in der Region. Nur sind wir der Meinung, dass die »Politik des maximalen Drucks« nicht hilfreich ist, sondern nur den »maximalen Widerstand« des Iran hervorruft.

Die Hisbollah wird vom Iran finanziert. Sollte man sie nicht endlich EU-weit komplett verbieten?
Einige Mitgliedstaaten haben zusätzliche Maßnahmen gegen die Hisbollah getroffen. Ich sehe derzeit keine Einstimmigkeit darüber, dass die gesamte Organisation auf die EU-Liste der Terrororganisationen kommen soll. Dies kann sich allerdings ändern.

Angenommen, Donald Trump gewinnt wieder die Wahl. Welche Auswirkungen sehen Sie für das transatlantische Verhältnis?
Unser Verhältnis ist momentan schwierig. Vor allem das fehlende Interesse – um es diplomatisch auszudrücken – der jetzigen US-Administration für Multilateralismus und eine auf festen Regeln beruhende internationale Ordnung stellt uns Europäer vor große Herausforderungen. Trump hat die transatlantischen Beziehungen der letzten Jahre geprägt. Der Schaden, der da angerichtet wurde, kann nicht von heute auf morgen aufgehoben werden. Dennoch bleibt das Bündnis mit Amerika die wichtigste Grundlage für die Wahrung von Frieden und Stabilität.

Sie sind seit 2004 luxemburgischer Außenminister und haben seitdem viele EU-Sitzungen mitgemacht. Wie einig ist die EU heute in der Außenpolitik?
In den letzten Jahren ist es zunehmend schwieriger geworden, eine gemeinsame Linie zu definieren. Der Brexit, der Auftrieb für populistische Parteien in Europa und die Wahl Trumps 2016 haben sicherlich einen Einfluss gehabt. Der Wille, gemeinsam die EU voranzubringen, ist nicht mehr in allen Hauptstädten so ausgeprägt wie das es noch vor 15 Jahren der Fall war.

Ihnen wird manchmal von Regierungen vorgeworfen, sehr brachial zu argumentieren. Wie sehr trifft Sie das persönlich?
Ich sehe es als meine Aufgabe an, die Debatte zu beleben und der Sache dienlich zu sein. Dazu gehört, dass man Klartext redet – auch, wenn man damit manchmal aneckt. Diplomatie verträgt Kanten.

Mit dem luxemburgischen Außenminister sprach Michael Thaidigsmann.

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