USA

Truthahn und Latkes

Diesmal kam der Truthahn dazwischen. Weil Chanukka in diesem Jahr so früh ist wie lange nicht mehr, wird aus dem typisch amerikanischen Chrismukkah-Kuddelmud­del 2021/5782 ein Dreiklang. Am 25. November, mitten in den Chanukka- und Adventsvorbereitungen des Durchschnittsame­ri­ka­ners gleich welchen Glaubens, ist dieses Jahr Thanksgiving zu begehen, das überkonfessionelle und nichtreligiöse Truthahn-Essen.

So setzt der Publix-Supermarkt neben dem Tempel Beth Israel auf der Insel Longboat Key an Floridas Westküste zunächst einmal auf den Erntedank. Große bunte Ballons wiegen sich im Luftzug vorbeieilender Kunden über den herbstlichen Gabentischen. Die Chanukka-Kerzen und -Glückwunschkarten liegen noch fernab in den Abteilungen »Koscher« und »Grußkarten«. Auch keine Spur von den sonst üblichen »Happy Hanukkah«-Bannern, die in anderen Jahren in kitschiger Koexistenz mit den »Merry Christmas«-Schildern wetteifern.

Palmen In Manatee County sieht es bisher nicht sehr nach den großen Jahresendfesten der Juden und Christen aus – was natürlich am stets schönen Wetter und der Palmenkulisse liegt, die Mitteleuropäer nicht mit Chanukka verbinden. Der Bezirk südlich von Tampa ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine bei nordamerikanischen Juden sehr beliebte Gegend – vor allem zum Überwintern.

Ganz besonders mögen jüdische Reisende Anna Maria Island, die nördlichste der drei sogenannten Barrier Islands zwischen Sarasota und Bradenton, der Küste vorgelagerte langgezogene, schmale Inseln. Vor allem aus den im Winter kalten Neuenglandstaaten im Nordosten der USA oder aus den kanadischen Provinzen Quebec und Ontario kommen zahlreiche Besucher. Ständig strömen neue Gäste in Richtung dieses »Old Florida«-Freiluftmuseums, wo die Bäckersfrau manch einen auch nach zwei Jahren Corona-Absenz mit ihrem flötenden »You’re back – four Hard Rolls like always?« begrüßt.

Als sich vor dem Ersten Weltkrieg die ersten jüdischen Siedler in der Gegend von Bradenton niederließen, ging es noch nicht ums Überwintern, sondern um Existenzgründungen. Damals gab es nur zwei Synagogen, eine in Sarasota und eine in Manatee County.

Viele Juden aus dem Norden verbringen den Winter an der Golfküste.

Einige Jahrzehnte später ließen sich mithilfe des United Jewish Appeal (UJA) auch etliche Schoa-Überlebende in Bradenton nieder. Die Hilfsorganisation war 1939 gegründet worden, um den bedrohten Juden Europas die Flucht vor den Nazis zu ermöglichen. Während der Schoa wurde sie zur stärksten Säule der amerikanischen Auslandshilfe. Ende der 50er-Jahre wurde schließlich der Sarasota Jewish Community Council gegründet. Nach mehreren Umbenennungen heißt er seit 2009 »Jewish Federation of Sarasota-Manatee«. Heute gibt es in den beiden Countys 13 jüdische Gemeinden.

pro-kopf-einkommen Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen ist Sarasota die zweitreichste Stadt der Vereinigten Staaten, und in Umfragen, wo die glücklichsten Amerikaner leben, liegen die Countys Manatee und Sarasota stets vorn. Kein Wunder also, dass sich nicht nur die im 20. Jahrhundert rapide gewachsene regionale jüdische Community hier wohlfühlt, sondern viele Juden als »Snowbirds« ihre Winter an der Golfküste verbringen.

Viele von ihnen siedeln nach und nach ganz um. So sind heute in Manatee und Sarasota knapp zwei Prozent der Gesamtbevölkerung jüdisch – mehr als doppelt so viele wie durchschnittlich in Florida, dem Bundesstaat, der mit 800.000 Juden auf Platz drei der jüdischen Bevölkerung in den USA liegt. Statistiken zufolge gibt es im Süden Floridas um Miami die weltweit stärkste Konzentration jüdischer Einwohner außerhalb Israels, nämlich 13 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Zu einem zusätzlichen Zustrom jüdischer Neubürger trug die Corona-Krise bei. Denn während der Pandemie zogen viele charedische New Yorker nach Florida. Die meisten ließen sich jedoch in der ohnehin konservativeren Gegend um Miami nieder.

Zu einem zusätzlichen Zustrom jüdischer Neubürger trug die Corona-Krise bei.

Im reichen Manasota tummelt sich hingegen ein breites Spektrum dessen, was das amerikanische Judentum ausmacht: Von Chabad am einen Ende der Skala bis zum sogenannten Humanistic Judaism gibt es an der Suncoast für jeden etwas. Die liberalen bis progressiven Juden sind allerdings in der Mehrheit.

Synagogen Auf Anna Maria Island selbst gibt es keine Synagoge. Die dortigen Juden haben entweder die Möglichkeit, die Reformgemeinden Tempel Beth Israel auf der Nachbarinsel Longboat Key oder Ner Tamid in Bradenton zu besuchen. Und für orthodoxe Beter gibt es lediglich die Chabad-Gemeinde »West Bradenton and Anna Maria« auf dem Festland.

Regale mit koscheren Lebensmitteln sind in den örtlichen Supermärkten zwar selbstverständlich, doch wer streng nach den Regeln der Kaschrut lebt, muss weitere Wege in Kauf nehmen – oder dem Organisationstalent von Chabad vertrauen.

Einen koscheren Lebensmittelladen gibt es erst in St. Petersburg, 40 Kilometer entfernt. Das liegt einerseits daran, dass hier in der Gegend vor allem liberale Juden leben, ist aber für die USA recht untypisch. In dieser Hinsicht bieten sich dem amerikanischen Pioniergeist gewiss noch einige Marktlücken.

Dann würde eines Tages bestimmt auch am Manatee Beach, dem öffentlichen Stadtstrand von Anna Maria Island, eine Chanukkia leuchten und nicht nur ein dezenter Weihnachtsbaum. Aber sicher nicht mehr in diesem Jahr – denn da ist dem jüdischen Lichterfest der Truthahn in die Quere gekommen.

Baku/Malmö

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