USA

Traumatische Stunden

Der Tatort nach der Geiselnahme: Synagoge der Reformgemeinde Beth Israel in Colleyville, Texas Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS


Die Mitglieder der Reformgemeinde Beth Israel in Colleyville, einem Vorort der texanischen Metropole Dallas, die sich am vergangenen Schabbat zum Gottesdienst versammelten, taten dies wegen der Corona-Pandemie größtenteils per Livestream. So wurde ihnen der Beginn des Dramas in ihrer Synagoge unfreiwillig frei Haus geliefert. Was sie sahen, bis die Übertragung endlich unterbrochen wurde, war erschütternd.

Es war elf Uhr am Samstagmorgen, Rabbi Charlie Cytron-Walker betete gerade mit anwesenden Gemeindemitgliedern, als sie ein metallisches Klicken hörten. Das Geräusch kam, wie der Rabbi später der BBC berichtete, von einer Waffe. Ein Mann hatte sich mit dem Hinweis, er sei obdachlos, Zutritt in die Synagoge verschafft und nahm den Rabbiner sowie drei weitere Gottesdienstbesucher als Geiseln.

Bevor der Livestream später abgeschaltet wurde, waren deutlich Äußerungen des Attentäters zu hören. »Holt mir meine Schwester ans Telefon« und »Ich werde sterben«. So berichten es mehrere Zeugen.

»SCHWESTER« Per Livestream war auch zu hören, wie der Geiselnehmer sagte: »Es ist etwas faul in Amerika.« Zudem habe er behauptet, eine Bombe bei sich zu haben, sagte Gemeindemitglied Victoria Francis der Associated Press. »Er war ziemlich durcheinander. Und je irritierter er war, desto mehr Drohungen stieß er aus.«

Per Livestream war zu hören, wie der Geiselnehmer sagte: »Es ist etwas faul in Amerika.«

Mit »meine Schwester« war offenbar seine »Schwester im Glauben«, Aafia Siddiqui, gemeint, denn wie die Ermittlungsbehörden herausfanden, hatte der Geiselnehmer nur Brüder. Siddiqui sitzt in einem Gefängnis in der Nähe von Colleyville. Sie wurde 2010 wegen eines Angriffs auf US-Soldaten in Afghanistan von einem US-Bundesrichter zu 86 Jahren Haft verurteilt. Sie soll Mitglied des Terrornetzwerks Al Qaida sein.

Siddiqui, die in zweiter Ehe mit dem Neffen des 9/11-Masterminds Khalid Sheikh Mohammed verheiratet war, promovierte in den USA in Neurowissenschaften und gilt als Paradebeispiel schleichender Radikalisierung. In den USA wird sie wegen ihrer Radikalität »Lady al-Qaida« genannt – in ihrem Geburtsland Pakistan von vielen verehrt und als Opfer der USA betrachtet, was auch an den nie gänzlich widerlegten Foltervorwürfen gegen die Amerikaner liegt.

STRAFAKTE Die Geiselnahme von Colleyville ist bereits die dritte Operation, Siddiqui aus ihrem Gefängnis in Texas zu befreien. Der Attentäter, ein 44-jähriger britischer Staatsbürger, war offenbar eigens wegen des Anschlags in die Vereinigten Staaten gereist. Er kommt aus dem britischen Blackpool, 50 Kilometer nördlich von Liverpool. Er war britischen Terrorermittlern aufgrund mehrerer Straftaten bekannt. »Er hat eine umfangreiche Strafakte. Es ist mir ein Rätsel, wie er an ein US-Visum und eine Waffe kam«, sagte sein Bruder dem britischen TV-Sender »Sky News«.

»Ich ermutige alle Gemeinden, an einem Sicherheitstraining teilzunehmen«.

Rabbi Charlie Cytron-Walker

Nach Angaben der »New York Post« war der Attentäter am 29. Dezember von London nach New York geflogen, hatte dort zunächst in einer Obdachlosenunterkunft übernachtet und dann am 31. Dezember einen Flug nach Dallas genommen. In der texanischen Stadt muss er auch die Waffe erworben haben, mit der er später in die Synagoge eindrang.

»Wir wurden die ganze Zeit bedroht, aber zum Glück wurde niemand von uns physisch verletzt«, sagte Rabbi Cytron-Walker dem TV-Sender »CBS News«. Nach sechs Stunden stimmte der Attentäter der Freilassung einer ersten Geisel zu. Den anderen gelang nach ein paar Stunden selbstständig die Flucht. »Als ich eine Möglichkeit sah zu handeln, als er in einer ungünstigen Position stand, war ich davon überzeugt, dass auch die Männer in meiner Gesellschaft bereit waren zu gehen«, so der Rabbiner.

spezialeinheiten »Der Ausgang war nicht allzu weit entfernt, ich sagte ihnen: ›Lauft!‹« Cytron-Walker warf einen Stuhl in Richtung des Geiselnehmers und rannte zur Tür. »Wir drei schafften es hinauszukommen, ohne dass ein einziger Schuss fiel«, sagt er. »Es war wirklich schrecklich, wir hatten einiges zu ertragen.« Nachdem die Geiseln sich selbst in Sicherheit gebracht hatten, stürmten Spezialeinheiten der Polizei die Synagoge und erschossen den Attentäter.

Sowohl Cytron-Walker als auch Jeffrey Cohen, eine weitere Geisel, sagten nach dem Ende der Geiselnahme, ihre Selbstbefreiung sei das Ergebnis jahrelangen Trainings gewesen, das sie aufgrund der latenten Gefährdung jüdischer Einrichtungen gemacht hätten. »Ich ermutige alle jüdischen Gemeinden, an dieser Ausbildung teilzunehmen«, sagt Cytron-Walker.

Sowohl Cytron-Walker als auch Jeffrey Cohen, eine weitere Geisel, sagten nach dem Ende der Geiselnahme, ihre Selbstbefreiung sei das Ergebnis jahrelangen Trainings gewesen.

Es sei jetzt nötig, bald wieder in die Synagoge zurückzukehren, sagt der Rabbiner. »Das wird für uns nicht einfach sein, aber es ist wichtig.«

Festnahmen Am Sonntag wurden in Manchester zwei Teenager festgenommen. Laut dem Sender CBS handelt es sich bei ihnen um die Söhne des Geiselnehmers. Man wolle ermitteln, ob sie etwas von den Plänen ihres Vaters gewusst hätten.

Unterdessen sagte der Bruder des Attentäters in einer Erklärung, die sich an die Opfer der Geiselnahme richtete, er bitte um Entschuldigung für die Tat, sein Bruder habe schon lange unter psychischen Problemen gelitten. Ähnlich äußerten sich Freunde des Geiselnehmers gegenüber der BBC. Ihren Angaben zufolge habe sich seine psychische Gesundheit in letzter Zeit derart verschlechtert, dass sie sich fragten, wie er es überhaupt geschafft habe, in die Vereinigten Staaten zu reisen.

US-Präsident Joe Biden nannte die Geiselnahme einen »terroristischen Akt«. Bereits während des Angriffs hatte das FBI mit den britischen Sicherheitsbehörden zusammengearbeitet. London sagte den USA auch Unterstützung bei den Ermittlungen zu.

weltkongress Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, erklärte: »Wieder einmal ist am Schabbat, einem Tag des Gebets und der feierlichen Einkehr, eine Synagoge Ziel eines bösartigen Angriffs geworden.« Lauder drückte der jüdischen Gemeinde in Colleyville seine Solidarität aus und dankte den Sicherheitsbehörden.

Außerdem erklärte er: »Ich bin auch ermutigt durch die Anrufe, die ich und andere Mitglieder der jüdischen Gemeinde von muslimischen Führern in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt erhalten haben, die diesen jüngsten sinnlosen Akt des Hasses verurteilen. Ihre Unterstützung ist zu diesem Zeitpunkt von entscheidender Bedeutung.«

Auch in Jerusalem löste die Geiselnahme Besorgnis aus.

Auch in Jerusalem löste die Geiselnahme Besorgnis aus. Israels Regierungschef Naftali Bennett twitterte: »Dieses Ereignis erinnert uns daran, dass der Antisemitismus immer noch lebendig ist und wir ihn weltweit bekämpfen müssen.«

solidarität Um den Mitgliedern der Beth-Israel-Gemeinde ihre Solidarität zu vermitteln, versammelten sich am Montagabend rund 1000 Juden, Christen und Muslime in einer Methodistenkirche wenige Kilometer nördlich von Colleyville zu einer Mahnwache. Rund 23.000 Zuschauer verfolgten die Veranstaltung im Livestream. Man sprach Gebete und sang englische und hebräische Lieder.

Mit lang anhaltendem Applaus begrüßten die Teilnehmer Rabbi Charlie Cytron-Walker, der mit den Tränen kämpfte und sagte: »Wir werden das durchstehen, auch wenn es im Moment nur sehr wenigen von uns gut geht. Ich wünschte, ich hätte einen Zauberstab und könnte all unseren Schmerz wegnehmen.«

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