Ukraine

Sicher in Uman

An dem Tag, an dem Wladimir Putin den Befehl gab, eine »Sonderoperation« zur »Entnazifizierung« der Ukraine zu starten, fielen russische Raketen auf Uman, eine Stadt zwischen Kiew und Odessa, die bei chassidischen Juden auf der ganzen Welt bekannt ist. Nach fast drei Monaten Krieg hat sich das jüdische Viertel rund um das Grab von Rabbi Nachman von Bratzlaw in einen sicheren Hafen für Menschen verwandelt, die aus umkämpften Orten fliehen.

Trotz anfänglicher Panik wegen tödlicher Raketenangriffe ist Uman inzwischen relativ ruhig. Das Stadtzentrum ist voller Menschen, ebenso das jüdische Viertel, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstand. Familien mit Kindern schlendern durch die Straßen voller Werbetafeln für koschere Restaurants und Reisebüros auf Hebräisch. Jedes Jahr im Herbst besuchen Zehntausende Juden Uman, um an Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest, am Grab von Rabbi Nachman zu beten.

Zurzeit kommen keine Pilger, sondern vor allem Kriegsflüchtlinge in die Stadt.

Zurzeit kommen keine Pilger, sondern vor allem Kriegsflüchtlinge in die Stadt. Die meisten Autos, die zwischen den Hotels und Synagogen parken, haben Nummernschilder aus den Regionen Donezk, Luhansk und Cherson.

DROHNEN Eines der Hotels, das derzeit Vertriebene beherbergt, wird von Vitaliy und Mikhail geführt. »Während die ersten Tage des Krieges wie ein endloser Albtraum waren, scheinen die folgenden ein endloser Tag zu sein«, sagt Vitaliy. Nach Kriegsausbruch half der junge Mann beim Bau von Befestigungen in seiner Heimatstadt Krywyj Rih, später wechselte er zum Drohnenfliegen, um russische Einheiten im Süden des Landes zu beobachten, und schließlich landete er hier in Uman und unterstützt Flüchtlinge.

Über einen gemeinsamen Bekannten, Rabbi Leron Ederi aus Krywyj Rih, traf er vor einigen Wochen Mikhail, der eine Generation älter ist. Mikhail ist 2014 aus seiner Heimat Donezk geflohen, wie die meisten Juden, als der Krieg dort ausbrach. Er habe nicht in der »russischen Welt« leben wollen, wie er sagt, und ließ sich in Kiew nieder. Acht Jahre später, als russische Truppen auch die ukrainische Hauptstadt beschossen, flüchtete er mit seiner Familie und kam nach Uman, um zu helfen.

Trotz der tragischen Umstände bleiben Vitaliy und Mikhail fröhlich und führen endlose politische Diskussionen. Sie glauben, dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird, weil sie geeint ist wie nie zuvor. Im Moment tun sie, was sie können: Sie helfen den Bedürftigen mit einer Reihe von Freiwilligen, die ihr Vorkriegsleben hinter sich gelassen und die Rollen von Managern, Rezeptionisten, Köchen und Psychologen übernommen haben.

front Einer von ihnen ist Kolya. Vor dem Krieg arbeitete er auf dem Bau – jetzt kümmert er sich um Menschen, die aus den Städten und Dörfern an der Front kommen. »Kinder, die von dort geflohen sind, haben Angst vor lauten Geräuschen und wollen nicht spielen«, sagt er. »Deshalb machen wir diese Zeichnungen, damit sie irgendwie wieder zurückfinden«, fügt er hinzu und zeigt auf die mit Zeichnungen übersäte Wand in der Hotellobby.

Eines der Bilder wurde von Veras älterer Tochter gezeichnet. Die Familie kam in Uman an, nachdem ihre Heimatstadt Mykolajiw im Süden der Ukraine, in der Nähe des von Russland besetzten Cherson, immer stärker von russischen Truppen beschossen worden war.

»Meine ältere Tochter tut nichts anderes als zeichnen und zeichnen«, sagt Vera. »Wir standen einen Monat lang unter Beschuss. Als Raketen in der Nähe unseres Hauses einschlugen, stand für uns fest, dass wir gehen. Meine jüngere Tochter hat immer noch Panikattacken, wenn sie nachts Autoscheinwerfer sieht, denn sie ähneln den Blitzen fallender Raketen.«
Die meisten Menschen, die in Uman Zuflucht gefunden hatten, hatten nie vor, aus ihren Heimatstädten wegzuziehen. Sie gingen in letzter Minute, als die Situation lebensgefährlich wurde.

raketen Alina kam mit ihrem Mann, ihrer Schwester und ihrem neugeborenen Kind aus Kostjantyniwka, einer Industriestadt im Donbass. Sie erinnert sich, wie sie noch eine Woche zuvor mit ihrem Baby im Kinderwagen in einem Stadtpark spazieren ging und die russischen Raketen zählte. »Wir entschieden uns erst dann zu gehen, als wir von den Morden, Vergewaltigungen und Folterungen in Butscha hörten«, sagt sie. »Meine Schwester ist 16 Jahre alt, sie hätten sie nicht verschont.«

Die neuen Bewohner des jüdischen Viertels sind dankbar für die kostenlose Unterkunft.

Viele der Flüchtlinge landen eher zufällig in Uman. Bogdana hatte noch nie zuvor von der Stadt gehört. Vor drei Tagen verließ sie mit Mann, Mutter, Kind, Hund und Katze Ukrainsk, eine Bergbaustadt in der Nähe von Donezk. Wegen ihres 90-jährigen Großvaters entschieden sie sich, in einem alten Bus zu fahren, der jahrelang nicht mehr benutzt worden war.

Es gab keine Alternative, der Großvater musste wegen der Lungenprobleme, die er sich nach jahrzehntelanger Arbeit im Bergwerk zugezogen hat, liegend transportiert werden. Unterwegs ging der Bus in der Nähe von Uman kaputt und fuhr nicht mehr. »Ohne diesen Ort wüsste ich nicht, wo wir leben sollten«, sagt Bogdana mit Tränen in den Augen.

unterkunft Die neuen Bewohner des jüdischen Viertels sind überrascht und dankbar zugleich, eine kostenlose Unterkunft zu bekommen. Die meisten hoffen, eines Tages nach Hause zurückzukehren.

Nach Angaben von Bürgermeisterin Iryna Pletniova fuhren in den ersten Kriegswochen täglich mehrere Tausend Menschen durch die Stadt. Pletniova erinnert sich, dass Beamte mehrere Nächte lang aufblieben, um zu helfen. »Wir sind in einem friedlichen Land eingeschlafen und im Krieg aufgewacht«, sagt sie, während das Frühlingssonnenlicht durch teilweise mit Sandsäcken bedeckte Fenster in ihr Büro fällt.

Sie sagt, dass der Zustrom von Menschen, die auf der Flucht vor dem Krieg durch Uman kommen, im Laufe der Zeit zurückgegangen und die Situation stabiler geworden ist. »Aber gleichzeitig gibt es Menschen, die nirgendwohin gehen und nirgendwohin zurückkehren können«, fügt sie hinzu. Aktuell haben sich mehr als 10.000 Flüchtlinge entschieden, vorerst in der 80.000-Einwohner-Stadt zu bleiben.

MAHLZEITEN In der zentralen Puschkinstraße verteilen Bratzlawer Chassidim warme Mahlzeiten an bedürftige Flüchtlinge. Ansonsten könnte man den Krieg an diesem sonnigen Frühlingstag fast vergessen – wenn da nicht regelmäßig die Sirenen an einen möglichen Raketenangriff erinnern würden.

Ende März veröffentlichte das russische Verteidigungsministerium Fotos, auf denen Männer zu sehen sind, die in Uniform vor der Hauptsynagoge von Uman stehen. Moskau behauptete, das »Kiewer nationalistische Regime« würde das Bethaus für militärische Zwecke nutzen.
»Leider arbeiten in Uman Leute für Russland«, sagt Zvi Arieli, ein lettischer Jude, der während der ersten Kriegstage half, die territoriale Verteidigung der Stadt zu organisieren. Informationen über Soldaten in der Synagoge entbehrten seiner Meinung nach jeder Grundlage, wurden aber als Rechtfertigung für den weiteren Beschuss herangezogen.

Zvi kam 2014 in die Ukraine und ist seitdem mit seiner Erfahrung aus der israelischen Armee an der Ausbildung von ukrainischen Polizisten, Grenzschutzbeamten und Soldaten beteiligt. Gekleidet in eine Khakijacke, eine Kippa auf dem Kopf, der Blick energisch, konzentriert, wirkt er wie eine wandelnde Bestätigung der jüngsten Aussage von Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass die zukünftige Ukraine eher einem belagerten Israel ähneln werde als dem friedlichen Land, von dem seine Bürger träumten.

Zvi sagt, Israel behandele seine Bürger, die im ukrainischen Militär dienen – er ist kein Einzelfall –, mit Zurückhaltung. »Die israelische Regierung könnte eine aktivere Position einnehmen«, meint er. Zvi glaubt, dass Selenskyjs Wahlsieg einen enormen psychologischen Einfluss auf die israelische Gesellschaft hatte. Plötzlich hätte man verstanden, dass es in der Ukraine keinen weit verbreiteten Antisemitismus gibt.

CORONA Dies heißt jedoch nicht, dass die Beziehungen zwischen der kleinen Bratzlawer Gemeinde, die dauerhaft in Uman ansässig ist, den Tausenden Pilgern aus aller Welt, die jedes Jahr hierherkommen, und den übrigen Einwohnern der Stadt immer perfekt seien.

»Als vor zwei Jahren die Corona-Pandemie ausbrach, versuchte der ehemalige Bürgermeister, aus dem Antisemitismus politisches Kapital zu schlagen, indem er die Befürchtung ausnutzte, dass religiöse Touristen das Virus mitbringen würden«, sagt Iryna, eine Anwältin der Rabbi Nachman of Breslov Charitable Foundation, die die Hilfsaktivitäten der Gemeinde koordiniert.

Während des Ukrainisch-Sowjetischen Krieges 1917/18 wurden die Juden von Uman Opfer von Pogromen.

»In den vergangenen 30 Jahren gab es andere kontroverse Episoden, aber das Verhältnis zwischen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft und den Bratzlawern verbessert sich allmählich – und das derzeitige Gefühl der Solidarität könnte den Prozess beschleunigen«, fügt Iryna hinzu. Die Animositäten haben tiefe Wurzeln. 1768 verloren in Uman während der sogenannten Kolijiwscht­schyna, einem Aufstand von Kosaken und ukrainischen Bauern gegen den polnischen Adel und die jüdische Bevölkerung, Tausende Polen und Juden bei einem Massaker ihr Leben.

freiheit Und während des Ukrainisch-Sowjetischen Krieges 1917/18 wurden die Juden von Uman Opfer von Pogromen. Während des Zweiten Weltkriegs wiederum ermordeten die Nazis rund 10.000 in Uman lebende Juden.

»Dieses Land ist mit Blut getränkt«, sagt Baruch Bavli, ein ukrainischer Jude, der nach der Lektüre der Texte von Rabbi Nachman ein Bratzlawer Chassid wurde. »Es ist das Blut der Ukrainer, die jahrhundertelang für ihre Freiheit gekämpft haben, und das Blut der Juden, die wegen ihres Jüdischseins verfolgt wurden. Deshalb müssen wir jetzt für dieses Land kämpfen.«

Baruch hat wenig Zweifel. »Jeder in Uman glaubt, dass der Krieg enden und die Ukraine siegreich daraus hervorgehen wird«, sagt er. Putin habe keine Zukunft. »In seinen Augen stehen Wut und Aggression, er ist ein Mann mit tiefen Komplexen und Problemen. Er ist ein Relikt der Vergangenheit.«

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