Ukraine/Russland

Kriegsziel »Desatanisierung«

Morgengebet am 18. März 2022 bei Chabad Lubawitsch in einer Synagoge in Odessa Foto: picture alliance / abaca

Für die Dämonisierung der Ukraine sorgt der russische Propagandaapparat ohne Unterlass. Auf der Suche nach einer Rechtfertigung für Russlands Krieg gegen die Ukraine liefern dessen bekannteste Repräsentanten im Staatsfernsehen regelmäßig die absurdesten Theorien.

Die Aussage, dass die Ukraine eine Brutstätte von Sekten sei und einer »Desatanisierung« unterzogen werden solle, passt eindeutig in dieses Repertoire – und auch antisemitische Töne sind nichts Neues. Nur handelt es sich in diesem besonderen Fall bei dem Autor um den persönlichen Referenten des Sekretärs des russischen Sicherheitsrates, Nikolaj Patruschew.

»NEUHEIDNISCH« In einem Gastbeitrag für die auflagenstarke russische Wochenzeitung »Argumenty i Fakty« Anfang vergangener Woche zeichnete Aleksej Pawlow, Generalleutnant des Inlandsgeheimdienstes FSB, das Bild einer von neuheidnischen Sekten beeinflussten ukrainischen Staatsmacht. Hunderte davon gebe es, namentlich führt Pawlow allerdings nur einige auf – darunter die Chabad-Lubawitsch-Bewegung. Als angeblich zentrales Lebensprinzip der Anhänger dieser chassidischen Richtung des orthodoxen Judentums macht er die »Überlegenheit über alle Nationen und Völker« fest.

Der FSB-Mann sprach von einem Chabad-Prinzip der »Überlegenheit über alle Nationen«.

In der religiösen jüdischen Community, deren Rabbiner zu großen Teilen Chabad zuzurechnen sind, sorgten diese derart offenkundig diffamierenden Anschuldigungen für heftige Empörung. »Die in dem Artikel angeführte These lässt sich kaum anders interpretieren als eine Beleidigung von Millionen gläubiger Juden, darunter auch die überwiegende Mehrheit der in Russland lebenden Juden«, stellte der russische Oberrabbiner Berel Lazar klar.

Um dies zu verstehen, reiche ein Blick auf die Tätigkeit der Bewegung im sozialen, kulturellen und Bildungsbereich. So unterhält Chabad in Moskau mit dem Zentrum für Toleranz ein gut besuchtes Museum, das die Bildungslandschaft in der russischen Hauptstadt bereichert.

STAATSANWALTSCHAFT Man könnte, so Lazar, die Äußerungen als Vulgärantisemitismus oder Unsinn abtun, wäre da nicht der Dienstgrad des Autors: »Das Aufwärmen der alten Ritualmordlegende in dieser Form im Namen eines Mitarbeiters des russischen Sicherheitsrates stellt eine riesige Gefahr dar, weshalb eine schnelle und deutliche Reaktion seitens der Gesellschaft und des Staates vonnöten ist.« Der Russische Jüdische Kongress (REK) unterstützt Berel Lazar in seinem Anliegen und sieht ebenfalls Handlungsbedarf. Mit einer schriftlichen Forderung an die Staatsanwaltschaft, Pawlows Publikation einer strafrechtlichen Prüfung zu unterziehen, versuchte der REK, die Behörden einzuschalten.

Scharfe Worte fand auch der Präsident der Föderation jüdischer Gemeinden Russlands (FEOR), Alexander Boroda. Die beleidigende Ignoranz Pawlows in Bezug auf die chassidische Lubawitsch-Bewegung, so Boroda, sei völlig inakzeptabel. »Eine solche Vorstellung von, das unterstreiche ich, traditionellen Konfessionen unseres Landes ist empörend«, reagierte er auf den Vorfall: »Die Verbreitung einer solchen Ansicht in den Medien fördert das Entstehen interkonfessioneller Konflikte und Zwist unter den Menschen.« Die Zeitung »Argumenty i Fakty« befindet sich übrigens seit 2014 im Besitz der Moskauer Stadtregierung.

FEOR-Pressesprecher Boruch Gorin, der als Chefredakteur der Zeitschrift »Lechaim« regelmäßig politische Nachrichten kommentiert, wurde auf Facebook noch deutlicher. »Etwa seit Mitte der 30er-Jahre hat sich kein einziger Staatsvertreter der UdSSR und der Russischen Föderation in der Öffentlichkeit dergleichen erlaubt. Bestenfalls Köter aus der Staatspropaganda.«

skandal Dass unmittelbare Reaktionen ausblieben, hielt er für besonders bemerkenswert, zumal kurz zuvor ein anderer Skandal in der Öffentlichkeit weite Kreise gezogen hatte. Bei dem Propagandafernsehsender RT, früher »Russia Today«, forderte Anton Krassowskij, ukrainische Kinder zu verbrennen. Daraufhin stellte die Redaktion die Zusammenarbeit mit dem Journalisten ein, und die Ermittlungsbehörden kündigten ihrerseits an, eine Untersuchung einzuleiten.

Russlands Oberrabbiner Berel Lazar beklagte eine Beleidigung Millionen gläubiger Juden.

Aleksej Pawlow hingegen hat kaum ernsthafte Konsequenzen zu befürchten. Gorins Schlussfolgerung lautet dementsprechend pessimistisch: »Dieser Fall geht, denke ich, in die Geschichte ein als Beginn einer neuen Epoche im Verhältnis Russlands zu den Juden.«

JEWISH AGENCY Ganz unbegründet sind diese Ängste nicht. Allein der seit Monaten andauernde Versuch, die Büros der Jewish Agency in Russland zu schließen, zeugt von einem sich verändernden Umgang der russischen Behörden mit jüdischen Einrichtungen. Am 19. Oktober wurde die laufende Gerichtsverhandlung allerdings um weitere zwei Monate vertagt. Derweil hat die Jewish Agency ihre Arbeit größtenteils in den digitalen Raum verlegt, um mit der riesigen Menge an Anträgen russischer Juden für eine Repatriierung in Israel fertigzuwerden.

Pinchas Goldschmidt, ehemaliger Moskauer Oberrabbiner und offener Kritiker des russischen Krieges gegen die Ukraine, teilte am vergangenen Donnerstag auf Twitter einen Aufruf an alle in Russland zurückgebliebenen Brüder und Schwestern, das Land zu verlassen. In den antisemitischen Angriffen aus Staatskreisen gegen Chabad sieht er, der schon im Frühjahr augereist war, sich in seiner Haltung bestätigt, die er seit Monaten vertritt.

Am Freitag vergangener Woche folgte von offizieller Seite dann doch noch eine Reaktion. Der Sekretär des Sicherheitsrates, Nikolaj Patruschew, höchstpersönlich meldete sich zu Wort. Allerdings wandte er sich in seiner schriftlichen Erklärung einzig an die Leserschaft der Zeitung »Argumenty i Fakty«. In dem genannten Beitrag seien fehlerhafte Angaben über die Chassidim der Chabad-Lubawitsch-Bewegung enthalten, hieß es da: »Ich entschuldige mich vor den Lesern und würde gerne anmerken, dass diese Interpretation einzig und allein die persönlichen Ansichten von Aleksej Pawlow widerspiegeln und in keiner Weise die offizielle Haltung des Sicherheitsrates darstellen.«

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