Tikkun Olam

Jäten als Mizwa

An manchen Sonntagen, besonders wenn es früh ist in der Pflanzsaison und morgens noch kühl, würde Ellen Etheridge lieber zu Hause bleiben, die Zeitung lesen, an ihrem Kaffee nippen. Aber wenn sie dann gemeinsam mit anderen Mitgliedern ihrer Gemeinde die Schaufel in die Hand nimmt und den warmen, bitteren Geruch der Erde einatmet, ist sie froh, dass sie gekommen ist. »In der Natur zu sein und zugleich etwas Gutes zu tun, das ist eine große Inspiration«, sagt sie.

Der Glücksort von Ellen Etheridge ist ein ehemaliges Schotterfeld auf dem Parkplatz der Reformsynagoge Temple Emanu-El in einem Vorort von Atlanta im US-Bundesstaat Georgia. Dort – ein unerwarteter Anblick für die Vorbeifahrenden – quillt es grün aus einem etwa 230 Quadratmeter großen Rechteck, eingezäunt mit Holz und Draht und angrenzend an ein kleines Waldstück. »Welcome to Garden Isaiah« steht auf einem Holzschild am Eingang.

Garden Isaiah ist ein Gemeinschaftsgarten, eines der Pionier-Projekte der Community-Garden-Bewegung in Atlanta, die seit Jahren in den USA an Popularität gewinnt, besonders in jüdischen Gemeinden. Die Idee wurde an Jom Kippur 2005 geboren, erinnert sich Robert Wittenstein, ehemaliger Präsident von Temple Emanu-El und neben Etheridge verantwortlich für den Garten. Damals hatte die Synagoge den damaligen Leiter der Atlanta Community Food Bank, der größten Tafel für Bedürftige in der Stadt, als Redner eingeladen. Er sprach über Armut und Hunger in Atlanta und hielt die Mitglieder der Synagoge an, zu helfen.

Die Idee zum Garden Isaiah wurde an Jom Kippur 2005 geboren

»Garden Isaiah entstand an Jom Kippur und wurde zu einem dauerhaften Projekt unserer Gemeinde«, sagt Wittenstein. Die Gemeindemitglieder bauten den Garten in wenigen Wochen und benannten ihn nach dem Propheten Jesaja, der berühmt ist für seinen Aufruf: »Brich dem Hungrigen dein Brot!«

In der jüdischen Tradition sind Gärten mythische Orte – wie schon der Garten Eden.

Dieser Mission folgen jeden Sonntag zwischen März und Dezember rund zehn freiwillige Helfer, die regelmäßig kommen, unterstützt von anderen, die gelegentlich dazustoßen, wenn sie Zeit finden, sagt Wittenstein.

Auch an diesem Frühlingssonntag; die Sonne steht hoch, der Himmel spannt ein Dach in Wasserfarbenblau, die Luft ist schneidend klar. Wittenstein, mit ruhelosem Blick und energischen Bewegungen, weist den Freiwilligen Aufgaben zu – Setzlinge pflanzen, Unkraut zupfen, Beete wässern. Er selbst greift sich eine Harke und pflügt ein abgeerntetes Beet um.

Garden Isaiah umfasst 21 Beete, 18 innerhalb und drei außerhalb der Einzäunung. In den äußeren Beeten haben die Community-Gärtner Zwiebeln und Meerrettich gepflanzt – »das schmeckt den Rehen nicht, da brauchen wir weder Zaun noch Draht«, sagt Wittenstein.

Die Ernte wird an Bedürftige verteilt

In einem guten Jahr fährt der Synagogengarten rund 680 Kilogramm Ernte ein. Die Erzeugnisse gehen an eine lokale Tafel, Community Assistance Center, die die Produkte an bedürftige Bürger verteilt, darunter viele hispanische Einwanderer.

Die Gemeinschaftsgärtner halten sich an die Regeln von Fruchtfolge und Fruchtwechsel, erklärt Etheridge, eine zierliche Frau mit einem breiten Sonnenhut aus Stroh. Unter dem Gemüse, das im Garden Isaiah angebaut wird, sind Radieschen, Salat, Gurken, Paprika, Kürbisse, Auberginen, Tomaten, Karotten und verschiedene Sorten von Kartoffeln.

Neben den Beeten auf einer Wiese wachsen mehrere junge Obstbäume – Birnen und Feigen –, die in diesem Jahr erstmals Früchte tragen.
Das Budget für den Garten ist klein, sagt Etheridge, ein paar Hundert Dollar im Jahr. Lokale Non-Profit-Organisationen spenden Saatgut, Setzlinge und Gartengeräte. Gemeindemitglieder bauen Rankgitter. Eine Pfadfindertruppe zimmert Holzrahmen für die Beete und pflanzt Blumen für Bestäuber. Keiner der Freiwilligen habe einen Hintergrund als Gärtner oder Gartenbauer, betont Etheridge, lacht und winkt ab. »Wir sind alle Laien. Wir lernen in jedem Jahr etwas Neues, mit jeder Saison, in der wir pflanzen und ernten.«

Im Garden Isaiah, so wie in anderen Community-Gärten auch, geht es um mehr als reine Hortikultur. Es geht um Gemeinschaft und um den Dienst am Gemeinwohl, es geht um die Pflege der Natur, um Kultur, Identität und auch um Spiritualität.

Es geht um Gemeinschaft und um den Dienst am Gemeinwohl

Es sei nicht überraschend, dass Community Gardening in jüdischen Gemeinden besonderen Widerhall finde, sagt Rabbi Max Miller, bei Temple Emanu-El zuständig für Umweltfragen. »Dies ist ein Weg, wie wir mit der Erde verbunden sind und mit dem Land.« Wenn Juden vom Land sprechen, meinten sie Israel, betont Miller, aber außerhalb Israels könnten Gärten und Farmen die Menschen zurück zu ihren Wurzeln bringen. Gärten sind in der jüdischen Tradition mythische, historische und auch praktische Orte, beginnend mit dem Garten Eden im ersten Buch der Tora. »Wir sehen uns als Hüter der Erde«, sagt Miller.

Auch im modernen Konzept des Gemeinschaftsgartens spiegeln sich zentrale jüdische Werte wider, darunter soziale Gerechtigkeit und die Erziehung zum achtsamen Umgang mit der Natur und dem Leben. »Wir leisten beim Community Gardening unsere Version von Tikkun Olam, die Reparatur der Welt«, sagt Etheridge.

Die guten Taten sollten jedoch nicht nur das eigene soziale Gewissen beruhigen, setzt sie hinzu, sondern auch sinnvoll sein. »Wir pflanzen sehr bewusst nur das an, was unsere Kunden« – so nennt sie die Empfänger der Ernte – »gern mögen, wovon sie nicht genug haben.« Zwiebeln seien gefragt, außerdem Kürbisse und ganz besonders Paprika – »weil Paprika in den Küchen so vieler Kulturkreise zu finden ist, und weil unsere Kunden so divers sind«.

Fast alle Erträge aus dem Garden Isaiah werden gespendet, mit wenigen – eher symbolischen – Ausnahmen. Jedes Jahr zu Pessach veranstaltet Temple Emanu-El einen Sederabend, und auf dem Sederteller befindet sich – als Repräsentant der bitteren Kräuter – Meerrettich aus dem Gemeindegarten. »Da schließt sich der Kreis auf eine schöne Weise«, sagt Etheridge.

Kinder helfen beim Pflanzen und Ernten

Garden Isaiah dient ferner der religiösen, kulturellen und sozialen Erziehung. Die Lehrer der jüdischen Religionsschule auf dem Campus der Synagoge besuchen mit ihren Schülern regelmäßig den Garten. Die Kinder helfen beim Pflanzen und Ernten, lernen unterschiedliche Gemüsesorten und Insektenspezies kennen und sprechen über die Bedeutung sozialer Verantwortung.

Hinter den Obstbäumen stehen zwei Bienenstöcke, bemalt von den Kindern der Religionsschule. Die Bienen produzierten zu wenig Honig zum Ernten und Spenden im größeren Stil, sagt Rabbi Miller, aber jedes Jahr zu Rosch Haschana kosten die Kinder von dem Honig, der im eigenen Gemeindegarten entstand.

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Die Bienenstöcke dienten auch als Ansporn für einen achtsamen Umgang mit der Natur. »Die Bienen sind wichtig für den Erhalt der biologischen Vielfalt, und sie sind wichtig für unser Leben«, sagt Miller. »Leider sind sie vom Aussterben bedroht.« Garden Isaiah dient auch der interreligiösen Erziehung. Immer wieder lädt Temple Emanu-El auch Kinder aus umliegenden Schulen und Kirchengemeinden ein; so war kürzlich eine Gruppe aus der nahen Methodistenkirche zu Gast. »Wir zeigen den Kindern die Tora, erzählen ihnen etwas über das Judentum und nehmen sie mit in den Garten«, sagt Wittenstein.

Schließlich dient der jüdische Gemeindegarten seinen Mitgliedern als Ort der Stille und der Reflexion. Im hinteren Teil des Gartens stehen Steinbänke, hinter denen sich der Blick in einen kleinen, aber üppigen Rosengarten öffnet. Der Rosengarten diene als Bestäuber für die Insekten, sagt Wittenstein, »aber er ist auch ein wundervoller Ort, um jüdisch zu sein«.

Der Gemeinschaftsgarten dient seinen Mitgliedern auch als Ort der Stille und der Reflexion.

Es gibt viele ähnliche Orte überall in den Vereinigten Staaten. Die Verbundenheit mit der Erde manifestiert sich in Innenstädten, in Vorstädten und auf dem Land. Da sind die jüdischen Gemeinschaftsgärten wie Garden Isaiah am Rande der Metropolen. Da sind die Stadtgärten in dicht besiedelten urbanen Zentren wie der Lower East Side in New York, einem diversen, pulsierenden und stark jüdisch geprägten Stadtviertel, grüne Flecken in einem symmetrischen Muster aus Backsteinmauern und stählernen Feuerleitern – Gärten, die häufig eher der Kulturpflege als dem Gemüseanbau dienen.

Landwirtschaft sei eng mit dem Aufbau des Staates Israel verbunden, betont Rabbi Miller

Und da sind Orte wie Camp Ramah Darom in den Bergen von Nord-Georgia, einem Sommercamp für Jugendliche, das sich der Landwirtschaft und Umweltpflege widmet. Das Camp ist Teil der Farming-Initiative von Jewish Federations of North America, dem Dachverband für jüdische Sozial- und Bildungseinrichtungen in den USA.

Landwirtschaft sei eng mit dem Aufbau des Staates Israel verbunden, betont Rabbi Miller, »mit der Geschichte der jüdischen Einwanderer, die mit ihren Händen das Land bestellt und bewohnbar gemacht haben«. Die hohe Wertschätzung von Erde und Land bei Juden weltweit – das sei auch ein zionistisches Erbe, sagt Miller.

Hat die Bedeutung von Community-Gärten als spirituelle Rückzugsorte für jüdische Amerikaner seit dem 7. Oktober 2023 zugenommen? Nicht sichtbar, meint Etheridge. Garden Isaiah habe weder mehr Besucher noch freiwillige Helfer als vorher. Aber ihr persönlich helfe die Arbeit im Garten gegen das Gefühl der Hilflosigkeit. Sie könne konkret wenig tun, um die Situation der Menschen in Israel zu erleichtern, sagt sie und zuckt mit den Schultern, »aber ich kann hier ein kleines bisschen Gutes leisten, und das gibt mir ein Gefühl von Frieden«, meint sie.

»Es gibt Stimmen, die sagen: Sollten wir nicht lieber Hilfsgüter nach Israel schicken, als Gemüse für die lokale Tafel anbauen?«

Wittenstein beobachtet, durchaus mit Sorge, einen gegenläufigen Trend. Viele jüdische Amerikaner – bei Temple Emanu-El und anderen Gemeinden in den USA – richteten ihren Blick seit dem 7. Oktober nach innen, fühlten sich alleingelassen von den vermeintlichen Freunden, seien in ihrem Denken »insularer geworden«, sagt der Chefgärtner von Garden Isaiah. »Es gibt Stimmen, die sagen: Sollten wir nicht lieber Hilfsgüter nach Israel schicken, als Gemüse für die lokale Tafel anbauen?«

An diesem Sonntagmorgen, nach gut zwei Stunden Arbeit, teilweise im Stillen, teilweise in regem Austausch, haben die Community-Gärtner in Atlanta zwei Kilo Radieschen und fünf Salatköpfe geerntet. Wittenstein holt eine Handwaage und ein Logbuch aus einem Gartenhäuschen auf der anderen Seite des Zauns, notiert den Ertrag sauber mit Kugelschreiber in einer Liste – ein Ritual seit beinahe 20 Jahren.

Am Montag wird Ellen Etheridge die wöchentliche Ernte an die Tafel ausliefern. Die Freude der Empfänger über frisches Gemüse sei jedes Mal groß, sagt sie – und für sie ein Ansporn, weiter an der Reparatur der Welt zu arbeiten – nächsten Sonntag im Garden Isaiah.

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