Samuel Markowitz swingt. Seine Füße tänzeln, der Oberkörper bewegt sich mit, immer wieder fahren seine Hände mit Verve in die Luft. »Ansprechbar, anwesend und engagiert«, sagt er, und das wolle auch seine Partei sein, die liberale Open VLD.
Um das Wahlprogramm vorzustellen, ist Markowitz ins Liberaal Huis gekommen, das Hauptquartier des Ortsverbandes Antwerpen. Er trägt einen schwarzen Anzug, weißes Hemd und schwarze Kippa. Es ist Freitagmittag, bald beginnt der Schabbat.
Erst spät am Samstagabend wird das Telefon von Samuel Markowitz wieder läuten. Es ist nicht leicht, ihn in diesen Wochen vor der Wahl zu treffen. Im Reisebüro, das der 42-Jährige gemeinsam mit seiner Mutter führt, ist es hektisch, weil Teilnehmer einer Diamantenmesse in Hongkong wegen eines Taifuns zurückfliegen wollen. Dann sind da seine Familie mit vier Kindern, der freiwillige Ambulanzdienst Hatzoloh, den er leitet, und natürlich die Politik, die in der heißen Phase des Wahlkampfes seinen Einsatz fordert.
debüt Am 14. Oktober finden in ganz Belgien Kommunalwahlen statt. Sechs Jahre nach seinem Debüt steht Markowitz als Spitzenkandidat auf der Kreisliste für das Antwerpener Stadtzentrum. Seit einigen Wochen ist er sogar nachts auf den Beinen. Um kurz nach zwei hat er am nächsten Tag seine erste Verabredung.
Die Straßen im jüdischen Viertel rund um den Stadtpark sind belebt. Der spätsommerlich anmutende Nachmittag treibt die Bewohner zum Flanieren hinaus, Kinderwagen rollen über breite Trottoirs.
Vor dem Haus, in dem Samuel Markowitz aufwuchs und das er nun mit seiner Frau und den Kindern bewohnt, parkt der leuchtend hellgelbe Motorroller mit dem Logo der Erste-Hilfe-Organisation Hatzoloh. Im Treppenhaus steht Markowitz’ Notfallausrüstung bereit. Der Alarm-Beeper ist immer an.
spitzenkandidat Der Spitzenkandidat bittet ins Wohnzimmer. Die kleinsten seiner Kinder vergnügen sich vor dem Bildschirm in der Ecke. Ihr Lachen mischt sich mit dem Jingle der britischen Serie Peppa Pig.
Samuel Markowitz ist eine bekannte Figur in der Antwerpener Lokalpolitik – und das nicht erst, seit er auf Platz 1 der Open-VLD-Kreisliste steht. In den vergangenen Jahren haben mehrere Juden der Stadt den Weg in die Politik gefunden. Diesmal stehen zehn auf den Wahllisten zu Gemeinde-, Kreis- und Provinzräten, fünf von ihnen bei der liberalen Partei.
Samuel Markowitz kommt eine besondere Rolle zu: Er gilt als der erste orthodoxe Kandidat – im Unterschied etwa zu seinem bekannten Parteikollegen, dem säkularen Claude Marinower.
Einerseits macht Markowitz um diese Tatsache wenig Aufhebens. »Religiös, das ist ein großes Wort. Nur weil ich eine Kippa trage, bin ich noch nicht religiöser als andere. Aber gut, ich bin nun mal der erste erkennbar jüdische Kandidat.« Andererseits hat ihn just dieser Hintergrund überhaupt in die Politik gebracht. »Ein Betriebsunfall war das«, sagt er und erzählt lachend, wie es dazu kam.
listenplatz Kontakte zur liberalen Partei habe er schon seit Längerem gehabt. Vor den letzten Kommunalwahlen 2012 sei ihm dann ein Listenplatz angeboten worden. »Doch ich sagte, das liege mir nicht. Ich bin jemand, der lieber hinter den Kulissen arbeitet. Persönlicher Kontakt ist eher mein Ding, als eine Rede zu halten. Ich stehe nicht gern im Scheinwerferlicht vor einem Saal voller Menschen. Also vereinbarten wir, dass ich bei der Suche nach einem Kandidaten aus orthodoxem Haus helfe. Hier auf diesem Sofa saß ich mit mehreren potenziellen Kandidaten – doch bei jedem kam irgendetwas dazwischen.«
Also trat Samuel Markowitz mit seiner Frau, aber ohne die versprochene Antwort den Weg zu einem Empfang an. Es war ein Galaabend, und er war mit der damaligen Spitzenkandidatin Annemie Turtelboom verabredet.
Doch bevor er mit dem Eingeständnis seiner erfolglosen Suche herausrücken konnte, nahmen die Dinge ihren Lauf: »Annemie Turtelboom, die damals auch Ministerin war, stand vor der Presse, als ich aus dem Lift kam. Als sie mich sah, zeigte sie auf mich und sagte: ›Und das ist mein neuer Kandidat!‹« Markowitz lacht. »Sie hatte mich reingelegt!«
stimmen Es ist aber nicht so, dass er es je bereut hätte, in die Politik gegangen zu sein. Im Gegenteil. Geradezu begeistert klingt er, wenn er über die vergangenen Jahre spricht. Trotz seines 15. Listenplatzes holte er bei den letzten Wahlen die meisten Stimmen im Wahlkreis.
Und dann tat sich in Form der Lokalpolitik eine neue Welt vor ihm auf. »Faszinierend« oder »spektakulär«, diese Wörter benutzt er, wenn er diese Welt beschreibt, und es klingt nicht, als sei das lediglich Wahlkampf-Vokabular. Freilich, räumt Markowitz ein, habe er eine gewisse Zeit der Eingewöhnung gebraucht. Dann aber wurde er zum Schöffen im Distriktsrat ernannt. Seine Befugnisse: Partizipation, lokale Wirtschaft, Märkte und Foren, Sicherheit und Sport. »Das ist eine ganze Menge.«
Dass sein Pensum groß ist, liegt auf der Hand. Nicht einmal zum Laufen kommt der passionierte Jogger noch, und das will einiges heißen. »Früher drehte ich selbst dann noch eine Runde, wenn ich erst nachts nach Hause kam. Doch seit einigen Jahren schaffe ich das nicht mehr.« Der einzige strukturierte Tag seiner Woche ist neben dem Schabbat der Montag. »Da mache ich morgens Hochzeiten, nachmittags haben wir eine Versammlung mit dem Kreisbürgermeister und den Schöffen, und wenn sich danach nicht die Ratskommission trifft, arbeite ich im Büro meine Dossiers ab. Ansonsten verteile ich meine Zeit zwischen Reisebüro und Besprechungen.«
chefsache Trotz allem würde Markowitz gern noch mehr tun: vor allem im Bereich Sicherheit, die gerade im jüdischen Antwerpen nach der Terrordrohung der vergangenen Jahre im Vordergrund steht. Markowitz’ Wort habe durchaus Gewicht, räumt er ein, doch der Bürgermeister hat den Bereich zur Chefsache erklärt. »Ich selbst bin nicht ängstlich veranlagt. Ich sehe mich hier noch viele Jahre ruhig leben und laufe überall mit Kippa herum, auch nachts. Aber natürlich gibt es Antisemitismus, es gibt eine Bedrohung, und die Bewachung jüdischer Einrichtungen muss bleiben.«
Diese Abgeklärtheit ist nicht selbstverständlich. Womöglich hat sie damit zu tun, dass Samuel Markowitz, als er mit den schlimmsten Auswüchsen jener Bedrohungen konfrontiert wurde, im Einsatz war. Für Hatzoloh, wo er einst in Amerika seine Sanitäterlaufbahn begann, und bei dessen Antwerpener Zweig er vor zehn Jahren die Leitung übernahm. Zwei Terroranschläge trafen Belgien in letzter Zeit ins Mark: Am 24. Mai 2014 war das Jüdische Museum in Brüssel das Ziel, am 22. März 2016 der Flughafen und die Metro der Hauptstadt. Beide Male war Samuel Markowitz kurze Zeit später am Tatort.
Nach dem Anschlag auf das Museum verhandelte er mit der Staatsanwaltschaft darüber, wann Hatzoloh der Aufgabe nachkommen könne, auch das Blut der Opfer zu bergen, das nach jüdischem Brauch bestattet werden muss. Den Flughafen Zaventem betrat er kaum eine halbe Stunde nach den Explosionen. Das Hatzoloh-Team blieb den ganzen Tag.
Bis heute ist die Ankunftshalle ein Ort, an dem Markowitz mit seinen Erinnerungen zu kämpfen hat. »Ich habe 20 Jahre Erfahrung und einiges gesehen, aber nichts ist mir so im Gedächtnis hängen geblieben wie die Ankunftshalle nach dem Anschlag.«
Überzeugung »Für alle Antwerpener ein offenes Ohr zu haben, unabhängig von ihrer Religion oder Kultur«, so beschreibt er seine grundlegende Überzeugung, die sich auch in seinen politischen Ansprüchen wiederfindet.
Was seinen Einsatz für seine jüdischen Stadtgenossen betrifft, ist ihm vor allem ihre Integration ein Anliegen – aus durchaus praktischen Gründen. Denn dass das Business mit den Diamanten schrumpft, macht sich im jüdischen Viertel seit Jahren bemerkbar, in Armut, aber auch in einem Umdenken: »Inzwischen gibt es eine ganze Gruppe von sehr religiösen Jugendlichen, die Handwerker werden. Wir haben den ersten orthodoxen Klempner, und neuerdings gibt es auch Dachdecker und Schlosser. Das ist schön zu sehen. Diese Menschen sind Vorbilder für die Zukunft.«
Zu einem der Schlosser hat Markowitz eine Geschichte zu erzählen. Trotz großer Anstrengungen und Liebe zum Fach drohte dieser Mann am Ende des ersten Lehrjahrs zu scheitern. »Gemeinsam mit einigen seiner Freunde rief ich in der Schule an. Wir erklärten, dass für ihn alles zusammenbricht, wenn er aufhören muss, und baten um eine Chance. Er bekam sie, und nach drei Jahren war er der Beste in der Klasse«, erzählt Markowitz. »So etwas sind für mich die schönsten Geschichten.«
Diese Geschichte sagt auch einiges über ihn selbst aus, jenen Samuel Markowitz, der lieber im Hintergrund bleibt, seine selbst erklärte Paraderolle gewissermaßen. Doch inzwischen hat diese Rolle Konkurrenz bekommen. Denn wenn nicht alles täuscht, dürfte Samuel Markowitz auch nach dem 14. Oktober weiter in der Öffentlichkeit stehen.