Schweiz

Grüezi und Schalom

Unter einem Dach: 44 jüdische und 67 christliche Senioren wohnen derzeit im Basler »Holbeinhof«. Foto: Holbein Hof

Sophie Bernoulli schiebt sich ein grünes Rucolablatt in den Mund. »Der Salat schmeckt gleich, ob koscher oder nicht«, sagt sie. Die alte Dame sitzt im Speisesaal des Altersheims »Holbeinhof« in Basel. Dass sie als Nichtjüdin regelmäßig koschere Mahlzeiten einnimmt, hat mit der Struktur des Altersheims zu tun, das vor rund sieben Jahren eröffnet wurde. Die derzeit 67 christlichen und 44 jüdischen Bewohner leben hier Tür an Tür – zumindest beinahe. Denn im Prinzip sind die Religionen nach Stockwerken getrennt: im ersten und dritten die christlichen Bewohner, im zweiten und vierten die jüdischen, der fünfte Stock ist konfessionell neutral. Doch Veränderungen – meist sind es Todesfälle – sorgen dafür, dass die strenge Zuordnung nach Stockwerken immer wieder durchbrochen wird.

Diejenigen, die wie Sophie Bernoulli ihre Mahlzeiten im Speisesaal einnehmen, treffen sich dort mit den Bewohnern der jeweils anderen Religionsgemeinschaft. Das kann zu durchaus pikanten und manchmal auch heiteren Situationen führen. So bleibt Sophie Bernoulli etwa beim jüdischen Tischgebet, das am Schabbat und den Feiertagen jeweils am Schluss der Mahlzeit laut gesagt wird, prinzipiell sitzen, auch wenn sie von der Liturgie rein gar nichts versteht. Und der eine oder andere jüdische Bewohner sucht schon mal vorher das Weite, was natürlich jedem selbst überlassen ist. »Schließlich gibt es nur einen Gott, für Juden, Christen oder Muslime, und der spricht auch nur eine Sprache«, sagt Bernoulli dazu. Sie ist im Basler Bachletten-Quartier, dem Stadtteil, in dem sich das Heim befindet, aufgewachsen: »Schon deshalb war es für mich klar, dass ich hier hinziehe, wenn es zu Hause nicht mehr geht.«

entfernung Da hat der 91-jährige Georg Wertheimer weitere Wege zurückgelegt. Er, der mit seiner Frau im Speisesaal an einem Tisch in der Nähe von Sophie Bernoulli sitzt, ist in Pressburg geboren, im August 1918, als das heutige Bratislava noch zur k. u. k. Monarchie gehörte. Aufgewachsen ist er in der Tschechoslowakei in den 20er- und 30er-Jahren. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs möchte er nicht in die Armee der inzwischen unabhängig gewordenen Slowakei eintreten – denn der junge Staat existiert nur von Hitlers Gnaden und ist durch und durch faschistisch. So flieht der junge Mann 1939 nach Italien und von dort weiter nach Marokko. In der Hafenstadt Tanger überlebt er den Krieg als Briefmarkenhändler, lernt seine Frau kennen und lässt sich nach der Unabhängigkeit Marokkos 1956 in Spanien nieder. Von dort aus gehen die Wertheimers nach Freiburg im Breisgau. Seit zwei Jahren leben sie nun im Holbeinhof.

konzept Dass sie in einem gemischt religiösen Heim leben, macht ihnen nichts aus. »Ich finde das Konzept spannend«, sagt Georg Wertheimer und betont, dass er sich kaum ein anderes Land denken kann, wo so etwas auf Dauer vorstellbar wäre.

Auch Heimleiter Rudi Hoffmann hätte vor der Eröffnung des Holbeinhofs vermutlich lieber keine Wette abgeschlossen, dass so etwas langfristig möglich ist. Grundsätzliche Diskussionen darüber, wer wann und wie was darf, waren da noch an der Tagesordnung. Dass der Speisesaal und das angegliederte milchige Restaurant nach den Gesetzen der jüdischen Speisegesetze betrieben wird, ist ja noch nachvollziehbar. Schließlich ist es für Christen allerhöchstens unpraktisch, koscher essen zu müssen, aber eben möglich. Für orthodoxe Juden hingegen kommt nur koscher infrage. Und wer – ob Jude oder Christ – doch einmal unbändige Lust auf ein Stück Schinken verspürt, kann sich das im eigenen Zimmer auf den Teller legen. Denn die Kontrolle der jüdischen Aufsichtspersonen beschränkt sich auf die öffentlich zugänglichen Räume der koscheren Abteilungen.
Lange Diskussionen gab es über die Frage, ob in der Weihnachtszeit ein Christbaum im Eingang stehen darf. Inzwischen hat man einen Kompromiss gefunden: Der Baum wird in einem Nebenraum der Eingangshalle aufgestellt. Auch bei den Öffnungszeiten des Restaurants einigte man sich friedlich: Am Schabbat und an jüdischen Feiertagen bleibt es geschlossen, aber in einem Seitenraum wird eine Art Alternativ-Kaffeehaus aufrechterhalten.

treffpunkt Es ist auch schon passiert, dass in der Synagoge des Altersheims ein Schabbat- oder Feiertagsgottesdienst gehalten wurde und zur selben Zeit ein Pfarrer genau gegenüber seine Schäflein zur Messe einlud. In die Quere gekommen sind sich die beiden Religionsgemeinschaften bisher aber nicht. Problematischer ist es allerdings, wenn im Holbeinhof eine Barmizwa, Verlobungsfeier oder ein anderer Empfang von Gemeindemitgliedern stattfindet – was ziemlich häufig vorkommt, denn das Heim ist auch ein Treffpunkt von Mitgliedern der Basler Israelitischen Gemeinde. Dann müssen die Bewohner, die gerne in der Eingangshalle sitzen, für einige Stunden ein anderes Plätzchen finden.

Heimleiter Hoffmann, der zwar selbst jüdisch ist, achtet darauf, sich konfessionell völlig neutral zu verhalten. »Ich bin für beide Seiten da«, sagt er, »ich muss ja schließlich Heimleiter aller Bewohner sein.«

Weil ein jüdischer Haushalt wegen der koscheren Lebensmittel teurer ist als ein christlicher, hat der Holbeinhof getrennte Kassen. Der jüdische Teil wird von einem Verein betrieben, der entsprechend eine Defizitgarantie gibt. Die nichtjüdische Seite decken die Stiftung Bürgerspital und die Stadt Basel ab. Den Bewohnern kann dies jedoch egal sein – je nach Pflegestufe zahlen alle den gleichen Tagessatz.

Bereit fürs ICZ-Präsidium: Noëmi van Gelder, Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein (v.l.n.r.)

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