Venezuela

Es wird leer in Caracas

Spärliches Angebot im Supermarkt: für Venezolaner seit Jahren kein ungewohnter Anblick Foto: Reuters

Jedes Mal, wenn ein Familienmitglied die Koffer packte, um nach Israel auszuwandern, lud Miguel Arrieta zu einem Abschiedsfest in sein Haus in San Cristobal im Westen Venezuelas ein. Jahr für Jahr. Bis zu dem Tag, an dem er selbst den Schlüssel in seinem Haustürschloss ein letztes Mal umdrehte. »Da war keiner mehr da, um mich zu verabschieden«, erzählt Miguel Arrieta heute, sieben Monate nach seiner Ausreise. »Dafür haben sie mich alle am Flughafen in Israel empfangen.«

Der 52-Jährige, seine Ehefrau (48) und die 15-jährige Tochter waren fast die Letzten aus der Familie, die Venezuela verlassen haben. Bis zuletzt hatten sie versucht zu bleiben. Es gab viel zu verlieren. Doch was macht man mit einer Villa mit acht Zimmern, wenn der Strom täglich ausfällt, die Stromschwankungen elektrische Geräte zerstören und die Mülltonnen nicht mehr geleert werden? Was macht man mit den Autos, wenn man für ein paar Liter Benzin stundenlang anstehen muss?

Krise Und was macht man mit dem angesparten Geld, das man auf der Bank erst nach stundenlangem Schlangestehen bekommt und das mittlerweile nichts mehr wert ist? 2018 lag die Inflation in Venezuela bei mehr als 130.000 Prozent.

Das Land steckt seit Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise, es mangelt an Trinkwasser, an Medikamenten und an Lebensmitteln. Seit 2016 herrscht der Ausnahmezustand. »Wir haben alles zurückgelassen«, erzählt Arrieta. Ihm blieb keine andere Wahl: »Du kannst nichts mehr verkaufen, es hat keinen Wert mehr. Hinzu kommt, dass derzeit jeder seine Sachen loswerden will.«

Im vergangenen Jahr lag die Inflation bei 130.000 Prozent.

Die Arrietas sind eine von zahlreichen venezolanischen Familien, die derzeit die Flucht ergreifen und nach Israel auswandern. Im vergangenen Jahr machten 175 Venezolaner Alija, 2017 waren es 152. In den Jahren 2012 bis 2016 schwankten die Zahlen noch zwischen 46 und 116.

Jewish Agency Die Jewish Agency spricht von einer Mischung aus verschiedenen Beweggründen, von Zionismus über Familie bis hin zu Antisemitismus. »Aber es ist klar, dass die höchst unbeständige politische und wirtschaftliche Lage die Entscheidungen der Neueinwanderer in den vergangenen Jahren beeinflusst hat«, so Yigal Palmor, Sprecher der Jewish Agency in Jerusalem.

So beschreibt es auch Miguel Arrieta. Für ihn spielte die persönliche Sicherheit und die seiner Familie eine Rolle. Zum einen, weil die Kriminalität in Venezuela sehr hoch ist. Überfälle auf den Straßen sind an der Tagesordnung. »Du kannst nicht einfach so mit dem Handy in der Hand die Straße entlanggehen«, sagt Miguel. Hinzu kommt, dass er als Anwalt und Hochschullehrer in Texten und sozialen Netzwerken die politische Führung kritisiert hat. Die Folge: Er wurde bedroht und beleidigt, auch per E-Mail und Telefon – und bekam irgendwann Angst um seine Familie.

sprachkurse Dass er nun auf seinen 17-jährigen Sohn wartet, der in Venezuela das letzte Schuljahr beendet, macht ihm Sorgen. Auch weil er weiß, wie schwierig die Ausreise derzeit ist. Nur wenige Fluggesellschaften fliegen Venezuela überhaupt noch an. »Und einen Reisepass zu erhalten, dauert acht Monate.«

Der Sohn wohnt zurzeit bei den Schwiegereltern, die nicht jüdisch sind, aber dennoch über die Auswanderung nachdenken – nur eben nicht nach Israel. Seit Dezember lebt die Familie in Jerusalem und besucht Sprachkurse. Die Tochter hat mit der Schule begonnen, Miguel sucht Arbeit, das Leben beginnt von vorne.

Nur wenige Fluggesellschaften fliegen Venezuela überhaupt noch an.

Beim Knüpfen von Kontakten, bei der Jobsuche und anderen Alltagsfragen hilft die Organisation »Beit Venezuela«, für die Rivka Lobl Mitelberg ehrenamtlich arbeitet. Auch sie kommt aus Venezuela, ging mit Miguel sogar auf dieselbe Schule. Sie kam aber schon vor 30 Jahren nach Israel, als eine der Ersten.

Laut Jewish Agency begann die Einwanderung aus Venezuela erst 1984. »Damals gab es hier kaum Venezolaner. Aber vor allem in den vergangenen drei, vier Jahren hat sich das enorm verändert«, erzählt Lobl Mitelberg. Israel sei auch deshalb ein Anziehungspunkt, weil es Chancen für junge und gut ausgebildete Einwanderer biete.

Mit »Beit Venezuela« versuchen die Einwanderer, ihre Gemeinschaft aufrechtzuerhalten – was nicht einfach ist. »Anders als andere Einwanderer leben wir verstreut im ganzen Land, von Eilat bis Kiryat Schmona«, erklärt Rivka Lobl Mitelberg.

Pablo Joskovicz zum Beispiel, der zur selben Zeit wie Miguel einreiste, lebt heute in Beer Sheva. Dort will er auch bleiben – wenn er den Job bekommt, um den er sich gerade beworben hat.

Es fehlen Lebensmittel, Trinkwasser und Medikamente.

»Heute war mein Vorstellungsgespräch«, erzählt der Ingenieur. Die sprachlichen Hürden sind für ihn eher gering, er hat bereits in der Schule Hebräisch gelernt. »Jetzt im Ulpan ist die Erinnerung wiedererwacht«, sagt er über den Sprachkurs. »Und natürlich gehört auch eine Portion Glück dazu, so schnell einen neuen Job zu finden.«

Für Pablo Joskovicz war klar, dass er, wenn er Venezuela verlässt, nach Israel auswandert – nicht nur, weil ein großer Teil seiner Familie schon dort war, auch Zionismus spielte eine Rolle. Zwar seien seine Eltern keine praktizierenden Juden gewesen, erzählt er, doch sie schickten ihn auf jüdische Schulen, wo er neben Hebräisch auch die jüdische Tradition und die Idee des Zionismus kennenlernte.

Sawlanut Als 17-Jähriger nahm er am Weizmann-Institut in Rechovot an einem Programm für angehende Studenten teil. »Damals habe ich vor allem zwei Wörter gelernt: Sawlanut (Geduld) und maher (schnell).« Vor allem das »maher« habe ihn damals abgeschreckt, nach Israel zu ziehen. Heute sei das Leben hier anders. »Ich glaube, dass die vielen Einwanderer die Sabres etwas ruhiger haben werden lassen«, scherzt er.

Seine beiden Kinder, die 22-jährige Tochter und der 20-jährige Sohn, waren die Ersten aus der Familie, die im vergangenen Jahr den Schritt aus Venezuela nach Israel wagten. Die Tochter studierte damals Pharmazie, der Sohn Maschinenbau. »Es wurde immer unsicherer, es kam zu immer mehr Protesten und Streiks, auf den Straßen wurde geschossen, Kurse fielen aus. Deshalb wollten sie in Israel neu anfangen.« Heute sind beide in der Armee.

Auch wenn sie viel verloren haben: Pablo Joskovicz und Miguel Arrieta sind guter Dinge, klingen zufrieden. »Es ist bittersüß«, sagt Miguel Arrieta. Vieles musste er zurücklassen. »Aber Israel ist jetzt ein sicherer Hafen. Unsere Wohnung ist klein, ein Bruchteil von unserem alten Haus. Aber mir geht es gut. Ich hoffe, dass es weiter bergauf geht.«

München/Gent

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