Schweden

Elche, Trolle, Klezmer

Der südschwedische Ort Gunnarp könnte abgeschiedener nicht liegen – ein stilles Seengebiet inmitten der Provinz Halland, wo morgens Nebelschwaden die roten Holzhäuser einhüllen. Die nächste Bahnstation, Ätran, ist drei, die nächste Kleinstadt, Ullared, 19 Kilometer entfernt. Nach Malmö fährt man gut drei Stunden, nach Göteborg zweieinhalb, nach Stockholm gar sechs.

Ausgerechnet dieser verschlafene Ort wird in den kommenden Tagen zu einer Brücke für jüdische Kultur: Künstler, Autoren und Wissenschaftler aus ganz Skandinavien kommen in Gunnarp zu einem dreitägigen jüdischen Festival zusammen, um die Vielfalt jüdischer Kultur in Skandinavien zu zeigen. Grenzüberschreitend soll das Festival sein – auch über Kultur hinaus.

»Wir können unsere Augen nicht vor dem wachsenden Antisemitismus in Europa verschließen – auch in Skandinavien«, begründet Organisator Robert Jakobsson diesen Anspruch. Der Schauspieler und Regisseur leitet seit 27 Jahren in Gunnarp die »Tokalynga«-Theaterakademie und das dazugehörige »Theater Albatross«. Es ist bereits das zweite Festival dieser Art, das er auf die Beine stellt.

Lag der Fokus 2008 noch auf jiddischer Kultur, sei das Festival 2015 thematisch »viel offener und kontroverser« angelegt. So wird das Publikum neben der dänischen Schauspielerin Pia Rosenbaum, der norwegischen Klezmersängerin Bente Kahan und der schwedischen Ladino-Interpretin Anne Kalmering auch Schriftstellern, Journalisten und Wissenschaftlern begegnen. Zudem sind Vorträge von Siavosh Derakhti und Alán Ali geplant: Beide leben in Malmö, sind Muslime und engagieren sich seit Jahren in Schulen gegen Antisemitismus – so wirksam, dass sie sogar von Barack Obama bei dessen Staatsbesuch in Schweden 2013 für ihre Arbeit gewürdigt wurden.

FEstival »Das Publikum wird eine große Bandbreite jüdischer Kultur und Geschichte erleben – und interkulturellen Gedankenaustausch«, freut sich der Festivalleiter. »Wer hierherkommt, um jiddische Lieder zu hören, wird darüber hinaus auch die Möglichkeit haben, mit dem Journalisten Göran Rosenberg, dem Sozialpsychologen Lars Dencik und dem Historiker Stéphane Bruchfeld ins Gespräch zu kommen – eine Mischung also, die man bei einem Kulturfest mit nur einem Fokus eher selten erlebt.«

Es sei echte Brückenarbeit, ganz im Sinne des diesjährigen Mottos »Brücken« des Europäischen Jüdischen Kulturtages, in den das Festival am Sonntag mündet, findet er – zumal die Teilnehmer, die sich für alle drei Tage angemeldet haben, in den Gästezimmern der umliegenden Bauernhöfe unterkommen und so mit den Menschen vor Ort in Kontakt kommen können. Für den Theatermann ist das ein positiver Nebenaspekt des Brückenmottos.

TRadition Dabei sollte der Europäische Jüdische Kulturtag ursprünglich eher unpolitisch sein, betont Claude Bloch von der Europäischen Vereinigung für die Bewahrung und Förderung von Kultur und Erbe des Judentums. Als die Elsässerin 1996 Mitstreiter zwischen Straßburg und Karlsruhe für ihre Idee eines europäischen jüdischen Kulturtags begeisterte, lag der Fokus klar auf Kultur und Traditionen: »Theatervorstellungen, Lesungen, Konzerte, Gespräche, Ausstellungen und Musik sollen dem – vorwiegend nichtjüdischen – Publikum jüdische Geschichte, Traditionen und Bräuche zeigen und seine Beiträge zur Kultur Europas in Vergangenheit und Gegenwart nahebringen«, beschreibt Koordinatorin Claude Bloch das Ziel des Aktionstags.

»Die Länder, in denen Juden teilweise seit mehr als 2000 Jahren leben, wären ohne uns nicht das Gleiche – wir haben die polnische, französische, deutsche Kulturlandschaft mitgeprägt, und das wollen wir den Menschen zeigen«, sagt die Kulturtaggründerin. Politik sollte dabei weitestgehend ausgeklammert werden.

Doch angesichts von zunehmendem Rassismus und Antisemitismus sowie von Flüchtlingstragödien erscheint die Erweiterung um eine politische Dimension unvermeidlich, meint Jakobsson – und findet damit Unterstützung bei Stéphane Bruchfeld. »Jüdische Kulturtage richten sich sowieso an Kulturinteressierte«, meint der Historiker.

Sein zusammen mit dem Historiker Paul Levine verfasstes Schoa-Lehrbuch Erzählt es euren Kindern wird seit 17 Jahren in vielen schwedischen Schulklassen im Geschichtsunterricht gelesen. Dass Festivalleiter Jakobsson mit seinem Programm den Kulturbegriff um interkulturelle und politische Aspekte erweitert, findet Bruchfeld gut. Denn aus seiner Sicht sind Bildung und die Auseinandersetzung mit Geschichte untrennbar mit Kultur verbunden. Er freut sich besonders auf die Begegnung mit muslimischen Jugendlichen aus Malmö. »Wir haben immer viele Ideen und Vorstellungen vom anderen«, sagt Bruchfeld. Brücken sind für ihn daher ein treffendes Symbol.

Für die Schauspielerin Pia Rosenbaum bedeuten Brücken neben Zusammengehörigkeit vor allem individuelle Einsicht. »Wenn man eine Brücke überquert, erkennt man, dass Menschen auf der anderen Seite anders leben, als man dachte.« In ihrer Arbeit überquere sie ständig Brücken, sagt die Künstlerin. Sie empfindet es als Bereicherung, vor Menschen aufzutreten, die sie noch nicht kennt und die sich nicht unbedingt ihr One-Woman-Theaterstück ansehen würden. »Ohne Begegnung mit Fremden gibt es keine eigene Entwicklung«, meint Rosenbaum. »Sich immer nur mit Menschen zu umgeben, mit denen man einer Meinung ist, ist das Gegenteil von Brücken bauen.«

Vielfalt In den vergangenen 20 Jahren hat sich der Aktionstag zu einem Publikumsmagneten entwickelt. Jedes Jahr nehmen rund 200.000 Besucher in 32 europäischen Ländern das Angebot wahr, Einblicke in die Vielfalt jüdischer Kultur zu bekommen, zu Leitthemen wie »Küche«, »Humor«, »Musik« oder wie diesmal »Brücken«.

Noa Hermele, der Vizedirektor der Jüdischen Hochschule »Paideia« in Stockholm, wird am kommenden Sonntag nicht in Gunnarp sein, sondern den Begriff »Brücken« bei Veranstaltungen zum Kulturtag in der jüdischen Gemeinde der schwedischen Hauptstadt zur Debatte stellen. »Die wichtige Arbeit zwischen Kulturen und Religionen sehe ich weniger als Brücke zwischen zwei Inseln«, meint Hermele. Vielmehr gehe es darum, den anderen zu sehen, ihm zu begegnen und seine Geschichte zu hören.

Andererseits sei die jüdische Religion voll von »Hawdala« – Trennlinien wie etwa Schabbat und Alltag, koscher und nichtkoscher, das jüdische Volk und die anderen Völker. Doch die Unterschiede seien nur äußerlich und dazu da, »uns etwas beizubringen«, meint Hermele. Das habe vor knapp 2000 Jahren schon Rabbi Ischmael mit seinen 13 Prinzipien zur Textinterpretation gelehrt, sagt der Paideia-Vize. So gesehen seien Besonderheiten vielmehr Teil des Ganzen und Minderheiten keine Inseln, sondern Teil der Gesellschaft.

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