Norwegen

Die nördlichste Synagoge der Welt

Vermutlich haben nur wenige Trondheimer Juden in den 80er-Jahren davon zu träumen gewagt, dass ihre Gemeinde 2025 das 100-jährige Bestehen der nördlichsten Synagoge der Welt feiern könnte. Denn in diesem Jahrzehnt, so berichtet John Arne Moen, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Trondheims (Det jødiske samfunn i Trondheim), war ein Gutachten in Auftrag gegeben worden, das zu dem ernüchternden Schluss kam, »dass die Gemeinde zwischen den Jahren 2000 und 2010 vermutlich ihre Türen schließen und alle Aktivitäten einstellen müsse«. Auch in Deutschland waren damals viele, vor allem kleinere Gemeinden überaltert, junge Juden zog es zur Ausbildung in die Großstädte oder gleich ins Ausland.

Heute hat die Trondheimer Gemeinde mehr Mitglieder als vor dem Zweiten Weltkrieg, sagt John Arne Moen stolz, und das liege an der Zuwanderung: »Etwa die Hälfte der Trondheimer Juden ist entweder im Ausland geboren – oder sie sind Kinder von im Ausland geborenen Eltern.«

»Die meisten kommen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion oder aus Israel, aber wir haben auch Mitglieder aus Ländern wie Australien, Mexiko, Kanada, den USA – und natürlich aus Europa.« Dazu komme, dass »wir heute mehr Kinder und Jugendliche in der Gemeinde haben als in vielen Jahrzehnten zuvor«. So habe die Zuwanderung nicht nur Auswirkungen auf die Mitgliederzahlen gehabt, »sie wirkt auch belebend auf die alteingesessenen Juden«, freut sich Moen. »Die Tatsache, dass wir mehr geworden sind und es mehr Aktivitäten gibt, hat dazu geführt, dass die ursprünglichen Familien wieder viel aktiver sind.«

Ehemaliger Kopfbahnhof einer stillgelegten Schmalspur-Eisenbahnlinie

Die Diversität der Gemeinde zeige sich auch an der Zusammensetzung des Vorstands, »der jeweils aus Menschen aus Russland, Lettland und Israel, jemandem, der Giur gemacht hat, und zwei Mitgliedern der alteingesessenen Familien besteht«, sagt Moen.

Trondheim war einst aus gleich mehreren Gründen eine attraktive Wahl für die mehrheitlich aus dem Zarenreich, dem Grenzgebiet zwischen dem heutigen Polen und Litauen stammenden Juden gewesen. Die als weltoffen geltende Hafenstadt wurde als »Tor zum Norden« bezeichnet und war eine Drehscheibe des nationalen und internationalen Handels. Hinzu kam 1910 die Gründung der Norwegischen Technischen Hochschule (Norges tekniske høg­skole), der heutigen NTNU, die aus Trondheim ein akademisches Zentrum machte. Die Zuwanderer reüssierten als verlässliche Händler, Schneider oder Schlachter, deren Angebote die lokale Wirtschaft gut ergänzten.

Die Diversität der Gemeinde zeigt sich auch im Vorstand, der aus Menschen aus Norwegen, Russland, Lettland und Israel, einem Konvertit und Alteingesessenen besteht.

1924 erwarb die Gemeinde schließlich ein eigenes Gebäude, den ehemaligen Kopfbahnhof einer stillgelegten Schmalspur-Eisenbahnlinie. Am 13. Oktober 1925 konnte die mit einer Frauenempore und acht Jahre später mit einer Mikwe ausgestattete neue Synagoge nach längeren Umbauarbeiten unter Leitung des Stockholmer Oberrabbiners Mordechai Ehrenpreis endlich eingeweiht werden.

Zu diesem Zeitpunkt war ein großes Problem schon länger gelöst worden: Wann beginnt und endet im hohen Norden, wo es mitten im Winter kaum je hell und im Sommer nie richtig dunkel wird, eigentlich der Schabbat, der sich nach den Zeiten der Sonnen- und Sternen-Sichtbarkeit richtet? Das sei ein interessantes Thema, sagt Moen, Trondheim liege schließlich so weit nördlich, »dass es einige Wochen im Jahr unmöglich ist, die genauen Zeiten nach der Halacha festzulegen«. Dem Problem hätten sich bereits die Gemeindegründer gestellt.

Das Schabbat-Problem

»1896 bekam die Gemeinde einen neuen Rabbiner, der aus dem heutigen Belarus stammte. Der habe die Schabbat-Frage sehr ernst genommen und mehrere führende rabbinische Autoritäten aus Europa zu Rate gezogen. Eine einheitliche, von allen akzeptierte Antwort gab es allerdings nicht. Erst »nach einigen Jahren der Diskussion« habe man sich schließlich darauf geeinigt, dass man den Schabbat in den Wochen, in denen keine korrekten Zeiten festgelegt werden können, um 17.30 Uhr beginnen und um 18.30 Uhr enden lässt. Soweit er wisse, sagt Moen, »sind wir die weltweit einzige orthodoxe Gemeinde mit dieser Regelung. Die natürlich nicht von allen akzeptiert wird, aber die meisten Rabbiner, die uns besuchen, respektieren sie – weil sie hier schon seit 125 Jahren Tradition ist«.

Ähnlich pragmatisch wird in Trondheim auch die Beschaffung koscherer Lebensmittel gelöst: »Wir sind Teil des nordischen Netzwerks und arbeiten eng mit der Mosaischen Glaubensgemeinschaft (Mosaiske Trosamfund) in Oslo zusammen«, erklärt Moen. Die norwegische Koscher-Liste verzeichne die in den Supermärkten des Landes erhältlichen koscheren Produkte. Fleisch und Käse kaufe die Gemeinde sowohl für Veranstaltungen als auch für Mitglieder im koscheren Laden in Oslo. »Koscheren Wein bestellen wir dagegen im staatlichen schwedischen Alkoholvertrieb Systembolaget, holen ihn dann an der für uns nächstgelegenen Stelle in Storlien ab, verzollen ihn und bringen ihn dann nach Norwegen – das funktioniert sehr gut.«

»Heute hat die Trondheimer Gemeinde mehr Mitglieder als vor dem Zweiten Weltkrieg.«

Gemeindechef John Arne Moen

Und so kann nun bald gefeiert werden. Sogar Mitglieder des norwegischen Königshauses werden zum Jubiläum erwartet. Ob König Harald oder Kronprinz Haakon Magnus mit Mette-Marit kommen werden, will John Arne Moen »aus Sicherheitsgründen« ebenso wenig verraten wie das genaue Programm. Fest steht aber schon, dass am Samstag Dänemarks Chefkantor und ehemaliger X Factor-Kandidat in Israel, Edan Tamler, ein Konzert geben wird.

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Und nach den Feierlichkeiten wird weiter daran gearbeitet, das Gemeindeleben zu gestalten. Aktivitäten für unterschiedliche Gruppen sollen angeboten werden, »damit wir die Rolle einer sicheren und relevanten Gemeinschaft für Juden in unserem Teil Norwegens noch besser ausfüllen können«, so Moen. Eine Umfrage ergab: 70 Prozent der Mitglieder wollen, dass die Gemeinde weiterhin orthodox bleibt. »Außerdem gibt es den starken Wunsch nach mehr sozialen Treffpunkten. Dieses Bedürfnis hat seit dem 7. Oktober 2023 zugenommen. Viele fühlen sich im Alltag einsam und haben den Wunsch, mit anderen Juden zusammenzukommen und sich auszutauschen.« Quiz-, Kino-, Wein- und Themenabende sollen dabei helfen. Ab dem Herbst sollen weitere Planungstreffen stattfinden.

Und wie sicher fühlen sich die Juden in Trondheim? »Insgesamt erleben wir hier weniger offene antisemitische Vorfälle als zum Beispiel in Oslo«, sagt der Vorsitzende des Gemeindevorstands. Gleichwohl mache man sich schon Sorgen, denn »Antisemitismus und Hass werden in absehbarer Zeit wohl nicht enden, und ich glaube, dass es in vielerlei Hinsicht noch schlimmer werden kann«.

Shlomo Graber anlässlich eines Vortrags in einer Schule in Rosenheim im Jahr 2017.

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