USA

Den Überlebenden zuhören

Taylor Krauss (2.v.r.) im Kreis von Jesiden im Irak, 2017 Foto: privat

»Die einzige Arbeit, die ich mir für mich vorstellen kann« – so beschreibt Taylor Krauss, amerikanischer Dokumentarfilmemacher, seinen Beruf beziehungsweise seine Berufung. Krauss sieht sich als nicht-binäres Individuum. »Ich will nicht als Mann gesehen werden, kann aber auch nicht behaupten, dass ich eine Frau bin, weil ich nicht trans bin«, erklärt der Mittvierziger. Da es dafür im Deutschen keine eindeutige Entsprechung gibt, wird in diesem Text die männliche Form verwendet.

Das schwierige Verhältnis zu Gender, das für Krauss ohnehin nur ein Konstrukt ist, führt er zum einen auf traumatische Erlebnisse zurück. So filmte er im Kongo Frauen, die Opfer von Massenvergewaltigungen wurden. Zum anderen fühlt er sich oft missverstanden, auch innerhalb seiner Familie.

schlüsselerlebnis Mit 15 hatte er ein Schlüsselerlebnis, das seine Berufswahl maßgeblich beeinflusste. Er reiste nach Ecuador und half beim Impfen von Hunden und Katzen, weil er damals noch Tierarzt werden wollte. Zum ersten Mal auf sich gestellt, konnte Krauss nach seiner Rückkehr in das Elternhaus in Phoenix, Arizona, der Familie nicht erklären, warum das Erlebnis so einschneidend war.

»Also dachte ich mir, vielleicht sollte ich Dokumentarfilme machen, um zu zeigen, was ich erlebt habe«, sagt er. Als er nach dem Abitur zum Studium an die Eliteuniversität Yale an der Ostküste der Vereinigten Staaten ging, belegte er unter anderem Kurse in Filmwissenschaften, Geschichte und Anthropologie.

Außerdem lernte er Chinesisch, Französisch und Spanisch. »Ich dachte mir, wenn ich mehrere Sprachen spreche, kann ich mit mehr Menschen auf dieser Welt sprechen, und ich wollte mit so vielen Menschen wie möglich sprechen«, erklärt Krauss.

HOLOCAUST In Yale lernte Krauss auch das Fortunoff-Videoarchiv kennen, das Zeugnisse von Schoa-Überlebenden sammelt und der Forschung und Öffentlichkeit zugänglich macht. 1979 gegründet, ist die Einrichtung die erste ihrer Art in Amerika. Durch offene Interviews, die mit der Kamera festgehalten werden und zwischen 30 Minuten und mehreren Tagen dauern, werden die Aussagen derer für die Nachwelt erhalten, die über die Gräueltaten der Geschichte aus erster Hand berichten können.

Von der Arbeit des Archivs beeindruckt und geprägt, entschloss sich Krauss, nach dem Studium 2004 nach Ruanda zu gehen.

Von der Arbeit des Archivs beeindruckt und geprägt, entschloss sich Krauss, nach dem Studium 2004 nach Ruanda zu gehen, um dort den Völkermord an den Tutsi zu dokumentieren, der zehn Jahre zuvor stattgefunden hatte.

»Nach ein paar interessanten Filmprojekten erschien mir mein Leben damals etwas ziellos«, erinnert er sich. »Wirst du jetzt dein Herzblut in etwas investieren, oder nicht?«, habe er sich gefragt. Rückblickend, nach fast 20 Jahren, sagt Krauss, dass er am Anfang nicht gewusst habe, was er tat. Während eines der Gespräche mit einem Überlebenden sei ihm schlagartig bewusst geworden, was seine Aufgabe war.

»Oh, es geht hier gar nicht um dich«, stellte er fest. Er war dort, um den Überlebenden die Möglichkeit zu geben, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Diese Erfahrung prägt seither seine Herangehensweise an die Menschen, die er filmt, und sein Verständnis von mündlicher Geschichtsdokumentation.

einfluss Bei der Entscheidung, nach Ruanda zu gehen, habe auch die Tatsache, dass Krauss jüdisch ist, eine Rolle gespielt. Die Geschichten, die Familienmitglieder erzählten über Verwandte in Ost- und Mitteleuropa, die in der Schoa ermordet worden waren, hatten einen fundamentalen Einfluss auf den jungen Krauss.

»Diese Geschichte zu erben, ist nichts, was ich mir gewünscht hätte«, sagt er. »Dennoch ist es ein großer Teil unserer jüdischen Identität.« Der Filmemacher zog daraus die Schlussfolgerung, Genozide zu dokumentieren, ganz so wie seine Vorbilder des Fortunoff-Archivs den Überlebenden der Schoa eine Stimme gaben.

Dieses Ziel verfolgte er auch im Irak, als er 2015, ein Jahr nach dem durch die Terror-Miliz »Islamischer Staat« verübten Völkermord an den Jesiden, einer religiösen Minderheit, begann, die Ereignisse vor Ort zu dokumentieren.

Er brachte den Menschen in Ruanda bei, ihre Geschichte selbst zu dokumentieren.

Ausgestattet mit Kameras und Aufnahmegeräten, brachte er den Menschen vor Ort bei, ihre Geschichte zu dokumentieren. Krauss zufolge ist diese Art der mündlichen Geschichtsschreibung ein fundamentaler Bestandteil der Aufarbeitung nach Konflikten und Kriegen.

»Solche Dokumentationen sind immer wichtig nach einem Konflikt, und es ist immer das Letzte, worum sich die internationale Gemeinschaft kümmert«, sagt der Dokumentarfilmer und Menschenrechtsaktivist. »Wir reparieren Straßen und Infrastruktur und leisten Wiederaufbauhilfe, aber wir nehmen uns nicht die Zeit, den Überlebenden zuzuhören.«

zeugen Die Zeugenaussagen, die von Krauss ausgebildete Teams sammelten, wurden von Menschenrechtsanwälten wie Amal Clooney, der Frau von Hollywood- Schauspieler George Clooney, genutzt, um Verurteilungen vor deutschen und internationalen Gerichten zu erwirken.

Aus Angst vor Antisemitismus hat Krauss sein Jüdischsein lange verheimlicht. Er erzählt, wie er als junger Mensch von einer Mitschülerin zu einer Tanzveranstaltung in der Schule eingeladen wurde. »Als ihr Vater herausfand, dass ich Jude bin, durfte ich seine Tochter nicht mehr begleiten«, sagt er. Seine Familie sei nicht besonders religiös gewesen, er ging aber mit Onkeln, Tanten und Großeltern an den Feiertagen in die Synagoge.

Im Falle der jesidischen Gemeinschaft kam Krauss seine eigene Religion zunutze. Er erinnert sich an ein Treffen mit Anführern der Jesiden im Irak. Einer der Teilnehmer hielt seine beiden Zeigefinger nah aneinander und sagte: »Wir sind Brüder. Wir wussten, dass du zurückkommen würdest, um uns zu helfen.« Der Mann bezog sich auf die historischen Gemeinsamkeiten zwischen beiden religiösen Minderheiten, der jüdischen und der jesidischen. Beide wurden verfolgt und aus dem Land, in dem sie lebten, vertrieben.

»Nach anfänglicher Verwirrung verstand ich, dass diese Verbindung zwischen unseren Völkern vor meiner Zeit begann. Meine Gesprächspartner spürten, dass ich als Jude etwas von Völkermord verstehe, und sie konnten die Beweggründe für meinen Aufenthalt im Irak nachvollziehen«, sagt Krauss. Der Film über den Völkermord an den Jesiden, der zum Teil in Deutschland gedreht wurde, soll im kommenden Jahr unter dem Titel The Bees of Shingal erscheinen.

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