Sommercamp

»Das Gefühl, frei und geliebt zu sein«

»Die Sommercamps wurden mit der Zeit immer teurer. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt, denn die Millennials sind finanziell schlechter gestellt als noch unsere Eltern«, sagt Sandra Fox. Foto: Alexa Klorman

Frau Fox, woran denken Sie beim Wort »Summer Camp«?
Viele Jahre lang war genau das meine Kindheit. Ich denke dabei an alle möglichen Arten von jüdischen Ferienlagern. Nicht nur die, an denen ich teilgenommen habe, nämlich die zionistisch geprägten. Ich denke dabei auch an das amerikanische Phänomen. Natürlich gibt es eine europäische Gegengeschichte, aber es ist einfach die Vorstellung eines speziellen Ortes, der für acht Wochen im Jahr das Zuhause für Hunderte von Kindern wird. Ich denke dabei an die Natur von Upstate New York: mit vielen Bäumen, vielleicht einem Fluss oder einem See. Morgens und abends war es kalt, nicht so heiß wie in der Stadt. Ich spüre jetzt noch die Luft auf meiner Haut, den Tau auf dem Gras am Morgen.

Sie haben mit »The Jews of Summer« ein Buch über die Geschichte der Summer Camps geschrieben. Wie fing eigentlich alles an?
Die Anfänge des amerikanischen Sommercampings gehen auf das Jahr 1800 zurück, obwohl das damals eigentlich nur für Kinder aus wohlhabenderen Verhältnissen gedacht war. Es gab viele christliche Geistliche, die Kinder irgendwo in die Natur mitnahmen, um für ein oder zwei Wochen eine Art von Sommercamp-Erfahrung zu machen. Ich glaube, dass diese Idee übrigens aus Europa stammt. Schauen Sie sich zum Beispiel die Geschichte der Wandervogel-Bewegung an. Um 1900 entwickelt sich das amerikanische Camping zu einer eigenen Kategorie, die sich meiner Meinung nach von den europäischen Sommercamps unterscheidet, da sie auf ihren Campingplätzen dauerhafter werden.

Inwiefern?
Das Gefühl der konstanten Erfahrung an einem Ort mit verschiedenen Gebäuden. In den 1920er- und 1940er-Jahren wurden die Campingplätze dann noch moderner, während der Großen Depression gab es eine Pause. Das jüdische Sommercamping ist Teil dieser Geschichte. Es gab auch Juden, Rabbiner oder andere Leute aus der jüdischen Gemeinde, die vor allem Jungen in die Natur mitnahmen. Aber wirklich groß wird das Sommercamping in der Zeit der Masseneinwanderung zwischen 1880 und 1925, wo Millionen von Juden vor allem aus Osteuropa einströmen.

Welche Aufgabe hatten die Camps damals?
Sie sollten Einwandererkindern helfen, sich an die amerikanische Gesellschaft anzupassen. Aber Hauptgedanke war auch, die Kinder aus den Städten mit all deren Schattenseiten der Industrialisierung und Modernisierung herauszuholen und sie in die Natur zu bringen. Juden waren ab den 20er-Jahren ein fester Bestandteil der Sommercamps, mussten aber ihre eigenen Ferienlager betreiben, weil sie in christlichen Sommercamps nicht willkommen waren.

Wie gestalteten sich die Summer Camps nach dem Zweiten Weltkrieg?
Zuerst einmal haben sich Camps an sich komplett modernisiert. Die Kinder müssen nicht mehr in Zelten im Wald schlafen. Alles ist viel strukturierter. Das spiegelt die Tatsache wider, dass Juden in Amerika zu diesem Zeitpunkt zur Mittelklasse gehören. Juden sind gesellschaftlich akzeptierter und wohlhabender, ziehen in die Vorstädte. Ihre Lebensumstände haben sich völlig verändert. Zu Beginn des Jahrhunderts, als sie in Amerika ankamen, lebten sie vielleicht in überfüllten Stadtteilen. Jetzt sind sie Teil der Gesellschaft. Daher werden auch Sommercamps tatsächlich immer wichtiger.

Gab es – örtlich gesehen – einen Schwerpunkt für Summer Camps?
Sie waren eher an der Ostküste. Vor allem im Nordosten. Das ganze Konzept der vier- bis achtwöchigen Sommerlager ist ein Phänomen des Nordostens. Der Grund, warum jüdische Camps für amerikanische Juden so wichtig sind, liegt in der Konstanz. Wenn es den Kindern gefallen hat, bleiben sie oft viele, viele Jahre lang – sogar bis ins Teenageralter. Es ist zum Teil auch eine Frage der Klasse. Als Teenager ins Summer Camp geschickt zu werden, ist ein Privileg, denn die Eltern drängen ihre Kinder nicht dazu, sich unbedingt einen Sommerjob zu suchen. Sie lassen sie in gewisser Weise länger ein Kind bleiben.

Wie sah ein durchschnittlicher Tag im Ferienlager aus?
Vollgepackt von morgens bis abends. Eine Aktivität nach der anderen, kaum ein Moment, um an etwas anderes zu denken. In ideologisch gefärbten Camps gab es tagsüber erzieherische Aktivitäten, um die Ideologie zu verinnerlichen. Es gibt alle Arten von wechselnden Kunst- und Kulturaktivitäten wie Tanz, Musik, Theater, Spiele und so weiter, sowie Sport. In den meisten dieser Lager gab es in der Nachkriegszeit eine Stunde am Tag, in der etwas getan wurde, um die Umgebung des Ferienlagers zu verbessern, also Aufräumen oder in der Landwirtschaft mithelfen. Es war also eine ziemlich intensive Arbeit. Abends gab es dann normalerweise irgendeine lustige Aktivität, bei der sich die Kinder richtig austoben konnten. Und das war auch die Zeit, in der es vor allem zwischen Jungen und Mädchen romantische Momente gab.

Haben junge Leute dort ihre späteren Ehepartner kennengelernt?
In der Nachkriegszeit schon eher, weil die Leute einfach jünger heirateten. Das war natürlich auch ein nicht unwesentlicher Teil eines Summer Camps, Gleichgesinnte zu treffen, um später zu heiraten. Heutzutage sind es weniger Paare, denn die Menschen heiraten einfach später.

Und wenn sich dann wirklich mal ein Paar fand? Wurde aufgepasst?
Eines der interessantesten Dinge, die ich in den Archiven gefunden habe, war die Debatte darüber, was altersgemäßes sexuelles Verhalten ist und was das Camp-Personal tun sollte, um das Angemessene zu fördern und das Unangemessene zu verhindern. Wie sollte man das kontrollieren? Dazu gibt es viel Schweigen. Aber im Allgemeinen waren diese Camps sehr lax.

Sind sie auch heute noch sehr lax?
Ich glaube weniger. Viele jüngere Camper haben darauf hingewiesen, dass diese Laissez-faire-Atmosphäre auch eine Schattenseite hat, nämlich dass ein enormer Druck auf die Teenager ausgeübt wird, sich miteinander zu verabreden. Seit 2017 wird diese Camptradition, über die in meiner Kindheit alle nur gelacht haben, neu bewertet.

Es gibt viele Summer-Camp-Filme. Haben Sie einen Lieblingsfilm?
Mein Lieblings-Camp-Film ist vielleicht der Lieblings-Camp-Film der meisten meiner Generation. Er heißt »Wet Hot American Summer«. Er wurde von David Wain gedreht, und ich glaube, er ist selbst ein ehemaliger jüdischer Camper. Obwohl das Camp im Film nicht explizit jüdisch ist, ist es ganz klar, dass der Film aus einem jüdischen Sommercamp stammt. Es gibt eine wirklich lustige Szene, in der jemand die Teilnehmer aufzählt und all diese wirklich jüdischen Namen sagt. Und dann sagt eine Freu mittendrin: David Ben-Gurion. Es ist ein urkomischer Film, der die Hypersexualität der Camp-Erfahrung auf eine sehr lustige Art und Weise aufzeigt. Das ist also ein Film, den ich liebe, und ich glaube, viele jüdische Camper finden ihn sehr nostalgisch.

Was sollte ein Sommercamp jungen Menschen heute bieten?
Oh, das überlasse ich den Aktiven. Aber ich hoffe, dass sie, wenn sie das Buch lesen, ein Gefühl dafür bekommen, dass es zumindest zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte eine breite ideologische Palette gab. Vor allem in den späten 1960er- und 1970er-Jahren. Viele jüdische Sommercamps haben alle ihre Symbole und kulturellen Referenzen aus Israel übernommen, wie die Lieder, die Tänze. Aber die Geschichte zeigt, dass es auch Summer Camps gab, die die jiddische Kultur und eine Art Umarmung der Diaspora im Allgemeinen förderten – amerikanisch-jüdische Geschichte wurde den Kindern nicht beigebracht.

Das gab es nicht?
Wissen Sie, amerikanische Juden gibt es seit 1654 in Amerika. Ich war von meinem neunten Lebensjahr bis zu meinem 21. in Summer Camps, und wir haben nie darüber gesprochen, dass amerikanische Juden eine Geschichte hier in Amerika haben. Ich meine: Was wäre, wenn man mit amerikanisch-jüdischen Kindern über amerikanisch-jüdische Geschichte sprechen würde? Es scheint so offensichtlich zu sein, aber das gibt es nicht. Was wäre, wenn wir über Juden in der Diaspora anderswo sprechen würden? Sie wissen schon: Juden, die heute in Europa leben, Juden aus dem Nahen Osten, Juden von überallher. In Ferienlagern haben Kinder die Möglichkeit, eine ganze Reihe von Möglichkeiten kennenzulernen, jüdisch zu sein, und sich mit der jüdischen Kultur zu beschäftigen. Aber oft ist das, was sie anstreben, sehr eng gefasst.

Wenn Sie eine Gruppe von Sommercamp-Teilnehmern aus den 60ern in ein Sommercamp von heute schicken würden, was würden sie vermissen?
Ich glaube, sie würden sich eher auf die Gemeinsamkeiten als auf die Unterschiede konzentrieren, denn Ferienlager verändern sich natürlich ständig. Aber auf einer gewissen ästhetischen oder grundlegenden Ebene beinhalten die Programme viele der gleichen Aktivitäten. Die Lieder sind weitgehend die selben. Die Menschen lieben Traditionen im Camp, deshalb sind bestimmte Dinge tatsächlich ziemlich ähnlich geblieben, selbst wenn die heutige Situation das Camp verändert. Ich wäre also wirklich neugierig. Ich weiß es nicht. Aber das ist eine gute Frage.

Sommercamps in den USA sind nicht gerade erschwinglich. Sind sie daher exklusiv beziehungsweise gibt es Stipendien?
Ja, es gibt definitiv Stipendien, und es gibt Organisationen auf nationaler Ebene, die versuchen, Geld zu sammeln, um den Zugang zu Ferienlagern zu erleichtern. Ich denke generell, dass wenn man als Jude in Amerika seine Kinder jüdisch erziehen will, man auf eine teure jüdische Erziehung stößt. Man hat das Gefühl, dass man zur oberen Mittelschicht gehören oder sehr wohlhabend sein muss, um das tatsächlich zu schaffen. Also würde ich sagen, es ist schon ausgrenzend. Die Sommercamps wurden mit der Zeit immer teurer. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt, denn die Millennials sind finanziell schlechter gestellt als noch unsere Eltern. Es ist also die Frage, ob das der Zukunft der Ferienlager schaden wird.

Wird dem in irgendeiner Form entgegengewirkt?
Ein Trend, den ich beobachtet habe, ist, dass Camps kürzere Kurse anbieten. Das hat zum Teil damit zu tun, dass Eltern sehr viel Wert darauf legen, ihre Kinder auf gute Colleges zu schicken. In den Teenagerjahren nehmen sie also bereits an Programmen teil, mit denen sie ihre College-Bewerbungen aufbessern können. Für acht Wochen ins Sommercamp? Das geht dann nicht. Ich war jeden Sommer acht Wochen im Zeltlager. Das ist jetzt viel weniger üblich. Aber: Durch kürzere Kurse werden die Ferienlager erschwinglicher. Manche Camps sind so teuer geworden, dass es für viele Familien einfach zu viel ist, ein Kind für vier oder acht Wochen im Jahr hinzuschicken.

Was kostet ein sechswöchiger Kurs?
Also, der sechswöchige Block in meinem Camp kostet jetzt 8500 Dollar für den ganzen Sommer. Als ich ein Kind war, war es ein längerer Zeitraum. Es waren eher sieben Wochen, und es war viel günstiger.

Mal wieder hin zum Schönen: Was ist Ihre beste Sommercamp-Erinnerung?
Den einzelnen besten Moment habe ich nicht, aber was ich am meisten schätze, ist, dass meine zwei besten Freunde, die ich bis heute habe, meine besten Freunde aus dem Sommercamp sind. Wir wohnen nur zehn Minuten zu Fuß voneinander entfernt, wir verbringen den Schabbat meistens zusammen und sehen uns regelmäßig. Am meisten schätze ich, dass diese tiefe Freundschaft, die wir Jahr für Jahr in den Ferien geschlossen haben, bis ins Erwachsenenalter anhält. Natürlich gibt es generell viele Erinnerungen: das Liegen auf der Wiese mit den Freunden, den Blick in den Himmel und das Gefühl, frei zu sein, sich geliebt zu fühlen.

Mit der Autorin, der stellvertretenden Gastprofessorin für hebräische Judaistik und der Leiterin des Archivs des Jewish Left Project an der New York University, sprach Katrin Richter.

Sandra Fox: »The Jews of Summer. Summer Camp and Jewish Culture in Postwar America.« Stanford Studies in Jewish History and Culture, Februar 2023, 304 S., 28 $

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