Essen verbindet uns mit dem, was früher einmal war, lautet die These von Adeena Sussman. Die jüdisch-amerikanische Starköchin muss es wissen – schließlich lebt sie das Kochen, und ihre Kochbücher sind nicht nur in New York omnipräsent auf den Büchertischen. Essen, so Sussman weiter, sei Trost und Verbundenheit zugleich. Deshalb kann man auch von einem Tor zu Erinnerungen und Gefühlen und nicht zuletzt auch zum Jüdischsein sprechen. Jüdisches Essen, ob es sich nun um Klassiker wie Latkes, Kugel oder Hühnersuppe handelt oder einfach nur um die Art und Weise, wie Tanten und Großmütter Challa oder Thunfischsalat zubereitetet haben, all das trägt immer auch die Namen der Toten, ganz nach dem Motto: »So hat es meine Mutter gemacht, sie starb in Auschwitz.«
Das erst im Jahr 2021 in Tel Aviv gegründete Culinary Institute of Israel, dessen Direktorin Naama Shefi auch der Jewish Food Society in den USA vorsteht, erinnerte mit der Aktion »A Place at the Table« (Ein Platz am Tisch) auch an die Toten des 7. Oktober 2023 und an deren Lieblingsgerichte, von jemenitischer Suppe über irakische Falafel bis Chraime. Oft können die Familien diese Gerichte nicht mehr kochen, weil sie schmerzhafte Erinnerungen wecken.
Alles Elitäre an Speisen lehnt sie ab. Das würde nur einschüchtern. Die Gerichte seien für alle da.
Jüdisches Essen ist Erinnerungsessen – der biblische Exodus beschreibt die Sehnsucht der vertriebenen Juden nach den zurückgelassenen Speisen. Es sind die besonderen Gerichte, die zum Festtagszyklus gehören, zu Purim, Chanukka oder Pessach, allen voran das allwöchentliche Schabbatessen. Sie bilden die Grundlage für Sussmans Kochbücher. 2019 hatte sie Sababa veröffentlicht, das ein Jahr später während der Covid-Pandemie und den ersten Phasen des Lockdowns zu einem Hit werden sollte.
Die Menschen waren viel zu Hause, hatten Zeit zum Kochen. Man traf sich virtuell, um gemeinsam Essen zuzubereiten, es gab ja nicht viel anderes zu tun, berichtet Sussman in einem Interview mit der »Times of Israel«. Sie habe sich nicht vorstellen können, dass andere ihren Kakifrucht-Ingwerkuchen so oft backen würden. 2024 erschien ihr nächstes Werk: Shabbat. Recipes and Rituals from My Table to Yours. Außerdem ist sie Co-Autorin von 15 weiteren Kochbüchern. Zwei davon, die sie mit dem Ex-Supermodel Chrissy Teigen veröffentlichte, schafften es sogar auf die Bestsellerliste der »New York Times«.
Sussman ist nicht die erste jüdische Kochbuchautorin, die es geschafft hat. Joan Nathan wurde mit ihren Büchern Jewish Cooking in America oder The Jewish Holiday Kitchen in den USA so etwas wie die Dr. Oetker der jüdischen Küche. Mit ihren einfach nachzukochenden Basisrezepten erreicht sie seit den 70ern ein großes jüdisches wie auch nichtjüdisches Publikum. Und natürlich gibt es da noch Michael Solomonov, Yotam Ottolenghi, Jake Cohen oder Einat Admony, allesamt englischsprachige, jung-dynamische Köche mit einer engen Verbindung zu Israel.
Usbekisch, irakisch oder palästinensisch
Sussman bedient sich dabei der gesamten Bandbreite jüdischen Essens, egal ob aschkenasisch oder sefardisch. Sie kocht mal mit einem asiatischen Touch, mal mit einem usbekischen, irakischen oder palästinensischen. Unabhängig vom Ursprung eines Gerichts geht es ihr dabei immer um die Einfachheit und die Möglichkeit, es problemlos nachzukochen. Ihre Küche sei im wahrsten Sinne des Wortes inklusiv, betont Sussman. Auch für die Feiertage kreiert sie gern Neues, beispielsweise sogenannte Pessach-Variationen. Die waren wohl eine ihrer größten Herausforderungen, erzählt sie: Mazze-Müsli oder ein Eier-Tortilla-Sandwich mit eingeweichter Mazze, die Möglichkeiten scheinen unbegrenzt, die Zutaten simpel. Elitäres lehnt sie ab, das würde nur einschüchtern, so Sussman weiter, Essen sei für alle da. Man brauche keine Zutaten, die teuer oder vielleicht schwer zu finden sind. Ebenso wenig komplizierte Rezepte. Essen soll die Menschen verbinden, nicht trennen.
Aufgewachsen ist Sussman in Palo Alto, im Silicon Valley. Ihre Eltern waren modern-orthodoxe Juden, die in Stanford studiert hatten. Wenn es um Essen ging, war die Welt damals eine ganz andere, erinnert sie sich, viel sparsamer und mit weniger Finesse. Das hebt Sussman immer wieder hervor. Es waren die späten 60er- und 70er-Jahre, und in Kalifornien gab es noch kaum koschere Supermärkte, geschweige denn konnte man Challa oder eingelegte Gurken kaufen.
Alles wurde selbst zu Hause gemacht, und das ganz simpel. Gab es keine frischen Zwiebeln oder Knoblauch, nahm man eben Zwiebel- und Knoblauchpulver, außerdem viel Margarine. Aus Chicago ließen Sussmans Eltern sich koscheres Fleisch kommen, das einmal im Monat von einem Tiefkühl-Truck an die Synagoge in Palo Alto geliefert wurde. Aus New York stammte der Käse, ganze Koffer voll davon habe ihr Vater mitgebracht, berichtet Sussman lachend.
Perfekte Gastgeberin
Für die vielen Lebensmittel kauften ihre Eltern eigens einen riesigen, modernen Kühlschrank, den sie in die Garage stellten. Irgendwann begann Sussmans Mutter dann, selbst koscheren Käse herzustellen, den sie auch an Gemeindemitglieder verkaufte. Das machte sie – zumindest im jüdischen Milieu – zu einer lokalen Berühmtheit. Ihre Mutter sei die perfekte Gastgeberin gewesen, erzählt Sussman weiter. Von ihr habe sie gelernt, einen Tisch festlich zu decken, Freunde zu empfangen und zu bewirten, kurzum: die richtige Stimmung zu schaffen.
Nach der Schule zog Sussman für einige Jahre nach Jerusalem, wo sie in sehr spartanischen Verhältnissen gelebt habe. Aber jeden Schabbat habe sie für sich und ihre Mitbewohner gekocht. Dann ging sie zurück in die USA, studierte Religion und Politik in Boston und landete schließlich am Institute of Culinary Education in New York. Sie begann, für kulinarische Zeitschriften zu schreiben, und wurde Köchin. So lernte sie das gesamte Who’s who der amerikanischen Kochwelt kennen.
Seit etwa zehn Jahren lebt Sussman mit ihrem Ehemann Jay, der für die israelische Naturschutzbehörde arbeitet, in Tel Aviv in der Nähe des legendären Schuk HaCarmel. Sie ist Frühaufsteherin, beginnt den Tag mit Kochen. Ohne ihre täglichen Begegnungen beim Einkaufen mit Passanten und Verkäufern wäre ihr Buch Shabbat nicht entstanden, betont sie. Viel würde sie auch ihrer mittlerweile verstorbenen Mutter verdanken, ihr seien die Kochbücher irgendwie auch gewidmet, sagt Sussman. Der wichtigste Tag sei immer der Schabbat gewesen. Die Speisen habe ihre Mutter stets mit Liebe zu- und vorbereitet. Das fing schon mittwochs an, wenn sie auf kleinen braunen Zetteln die Einkaufsliste für ihre Rezepte zusammenstellte. Für Sussman ist der Schabbat auch eine Geisteshaltung, eine Art von dem Profanen abgeschottete Welt, ein Moment des Für-sich-selbst-da-seins, egal ob religiös konnotiert oder nicht.
Kartoffel-Blintzes mit Pilzsauce, Mangosalat mit Amba, Hühnchen mit gerösteten Feigen und Weintrauben – manche von Sussmans Rezepten stammen auch von Freunden. Außerdem stehen in Sababa vor allem Gerichte aus der Kindheit im Mittelpunkt, in Shabbat Familienrezepte. Sussmans Durchbruch kam vergleichsweise spät. Ihre Präsenz in den sozialen Medien ist beachtlich – auf Instagram und Substack postet sie Videos und Bilder von Gerichten, dazu Rezepte, einige aus ihren Kochbüchern, die meisten aber nicht. Ihre Website und ihr Profil auf X verbreiten direkt gute Laune. Sussman ist zudem viel in jüdischen Gemeindezentren, Summer Camps und an Kochschulen unterwegs.
Als Sababa erschien und sofort auf der Bestsellerliste der »New York Times« landete, war sie bereits über 40 Jahre alt. Sie sei dankbar, dass sie bis heute diesen unglaublichen Erfolg haben dürfe, sagt Sussman. Und hoffentlich auch in der Zukunft, denn es gibt noch viele jüdische Rezepte zu entdecken – genau das betrachtet sie als eine ihrer Lebensaufgaben.