USA

»Sumach ist mein zweiter Vorname«

Eine halbe Million Menschen folgen Ruhama Shitrit auf Social Media. Ein Gespräch übers Kochen und Heilen

von Sophie Albers Ben Chamo  03.06.2024 00:26 Uhr

Wuchs in einer Familie auf, in der es (natürlich) gutes Essen gab: Ruhama Shitrit Foto: Heidi Aaronson

Eine halbe Million Menschen folgen Ruhama Shitrit auf Social Media. Ein Gespräch übers Kochen und Heilen

von Sophie Albers Ben Chamo  03.06.2024 00:26 Uhr

Frau Shitrit, vielleicht sprechen wir heute nicht über den 7. Oktober 2023, sondern über Ihren wunderbaren Erfolg und Ihre erstaunlichen Kochkünste.
Sehr gut, Politik soll keine Zutat in meinem Essen sein. Aber ich muss sagen, dass nicht nur ich, sondern alle jüdischen Blogger und Influencer seit dem 7. Oktober Auswirkungen auf ihre Arbeit gespürt haben.

In welcher Weise?
Ich habe die israelische Flagge gepostet, um mein Land zu unterstützen. Am selben Tag habe ich etwa 5000 Follower verloren. Es gibt so viel Hass. Aber ich bin mir selbst und meiner Identität treu geblieben. Ich schäme mich nicht dafür, wer ich bin! Ich bin eine stolze jüdisch-israelische Food-Influencerin!

Es gab sicher auch viel Unterstützung.
Ja, ich habe viele neue Follower aus aller Welt gewonnen. Die Leute wollten israelisches Essen kochen, und sie suchten jemanden wie mich mit diesem kleinen Akzent, ein paar Worten auf Hebräisch und Rezepten mit all unseren Gewürzen. Essen baut eine Brücke. Die Leute schickten mir Bilder und Videos und sagten: »Wir kochen für dein Heimatland.« Ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke.

Das hat auch mit Ihrer Positivität zu tun.
Ich möchte nicht traurig sein, ich möchte lächeln, denn ich glaube, wenn man positiv ist und eine gute Persönlichkeit zeigt, fühlen sich die Menschen mit einem verbunden. Die häufigste Nachricht, die ich erhalte, lautet: »Wir lieben deine Energie, wir lieben deine Positivität, wir lieben deine Familie.«

Es folgen Ihnen nun etwa eine halbe Million Menschen. Vielleicht sind 5000 gegangen, aber noch mehr sind gekommen?
Das stimmt. Aber wissen Sie, das liegt auch daran, dass ich jeden Tag sehr hart daran arbeite, gute Inhalte zu erstellen. Und man muss jeden einzelnen Tag sehr kreativ sein, Rezepte schreiben, filmen, schneiden, vertonen … Einer dieser kurzen Clips braucht manchmal einen oder sogar zwei Tage. Ich bin sicher, wenn man nicht alles gibt, können die Leute das spüren. Außerdem braucht es eine Menge Geduld.

Das Schwierigste.
Letztlich ist der Schlüssel, man selbst zu sein. Man weiß nie, woher der Erfolg kommen wird. Sei einfach du selbst. Das ist mein Motto.

Woher haben Sie diese Selbstdisziplin?
Ich bin Lehrerin, ich unterrichte Hebräisch an einer jüdischen Schule in Boston. Und dies wird mein letztes Jahr sein. Ich habe so viel Arbeit mit meinen Social-Media-Kanälen, und ich träume von einem eigenen Kochbuch. Und davon, mich mit mehr Menschen auszutauschen, zusammenzuarbeiten. Ich habe 25 Jahre in Israel und hier unterrichtet, und ich habe das Gefühl, das reicht. Aber ich werde weiter unterrichten, eben mit Kochen.

Wie weit ist das Buch?
Ich habe gerade angefangen.

Wann genau haben Sie mit den Koch-Clips angefangen?
Während der Pandemie. Wir waren alle hier, meine Jungs und die ganze Familie. Und dann, an einem Schabbatmorgen, sagten meine Jungs zu mir: ›Warum stellst du nicht eines deiner Rezepte auf Instagram?‹ Und ich sagte: ›Nein, ich will nicht öffentlich sein! Warum brauche ich das in meinem Leben?‹ Aber wissen Sie, ich wollte schon immer etwas mehr in meinem Leben machen. Ich mag meinen Job, ich liebe die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, und es gibt eine sehr schöne jüdische Schule in Boston, aber ich hatte das Gefühl, da ist mehr. Nach diesem Schabbatmorgen sagte ich also: Ich bin mir nicht sicher, ob es das ist, was ich will, aber ich werde es trotzdem versuchen. Ich postete ein Rezept für eine Babka. Und die Leute mochten es!

War es bereits ein Video?
Nein, nur ein Bild. Damals gab es bei Instagram noch keine Reels. Und dann wollten die Leute das Rezept. Danach habe ich weiter gepostet, schließlich auch mit einem kurzen Video angefangen, und dann habe ich gemerkt: Wow, ich muss professionell sein, ich muss lernen, wie man das macht. Und dann habe ich gelernt, wie man schneidet und all das. Ich habe alles selbst gemacht. Das war nicht einfach, aber ich habe es geliebt. Mit Leidenschaft. Der virale Moment kam, als ich anfing, Voice-over zu machen.

Wieso haben Sie sich dazu entschlossen?
Ich habe es bei anderen Influencern gesehen. Es ist viel einfacher, wenn dir jemand die Richtung vorgibt: »Blumenkohl nehmen, in kochendes Wasser geben, herausnehmen …« Also habe ich es versucht. Es war nicht einfach für mich, weil Englisch nicht meine Muttersprache ist. Ich verberge ja nicht, dass ich Israelin bin. Nach zwei weiteren Videos kam der geröstete Blumenkohl mit grünem Tahina, etwas, das man in jedem Restaurant in Israel findet, und das Video ging viral. Mehr als acht Millionen Aufrufe. Der Rest ist Geschichte.

Gefällt Ihnen, dass Sie inzwischen auf TikTok zum Meme geworden sind, in dem die Leute zu Ihrem Hähnchen-Arayes-Rezept tanzen?
Unglaublich, oder! Es gibt mehr als 600 Leute, die diese Clips gemacht haben.

Und auch Hunde tanzen mit.
Und ein paar israelische Soldaten. Ich dachte, wenigstens unterhalte ich sie, ich habe etwas für die Gemeinschaft getan.

Entschuldigung, aber Sie erinnern mich wirklich sehr an meine Schwiegermutter Esther, eine wahre marokkanische Kochkönigin …
Meine Eltern stammen beide aus dem Irak. Aber die Familie meines Mannes Yossi, mein Ein und Alles, ist aus Marokko. Er unterstützt mich so sehr, ohne ihn würde ich das alles nicht schaffen. Das ist das Tolle an Israel: Jeder kennt jeden von überall her. Es gibt Menschen aus Russland, aus Ägypten, aus dem Jemen, so viele Kulturen und so viel gutes Essen.

Haben Sie eine erste Koch-Erinnerung?
Auf jeden Fall. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der es natürlich gutes Essen gibt, irakisches Essen: Kibbeh, Tbeet, Sabich …

Oh, ich liebe Sabich!
Dann erzähle ich Ihnen eine Geschichte über Sabich! Mein Vater war immer dafür zuständig. Er ist ein erstaunlicher Koch. So wie meine Mutter. Jeden Schabbatmorgen war es Tradition, dass mein Vater früh aufstand, während die meisten meiner Brüder und Schwestern noch schliefen. Er bereitete alle Zutaten für das Sabich vor, die Aubergine, die Tahina, das Grün, den Sumach, die Zwiebel, die Pitot …

Das Ei …
Und ich stand immer früh auf, um neben meinem Vater zu stehen und ihm zuzusehen und zu helfen. Ich war jedes Mal erstaunt, wie er genau die richtige Menge an Zitrone, genau die richtige Menge an Olivenöl, das Salz, den Sumach, all die Aromen hinbekam. Ich war so beeindruckt davon. Rückblickend denke ich, dass das meine Inspiration war. Selbst als er zu Besuch nach Boston gekommen ist, saß er am Tisch, wie er es in Haifa zu tun pflegte, und nahm das Pita, um für jedes der Kinder und Enkelkinder ein Sabich zu machen. Er wollte, dass sie erkennen, dass jeder Bissen ein perfekter Bissen sein sollte!

Jetzt bin ich hungrig! Haben Sie selbst ein Lieblingsgericht oder hat sich das im Lauf der Zeit geändert?
Gemüse ist mein Lieblingsgericht, in jeder Form, gebraten, als Salat, roh mit Dips …

Es ist sehr interessant, dass Sie diese vegetarische, sogar vegane Seite in Ihrer Küche haben. Die ist so gar nicht typisch irakisch-israelisch.
Ich sehe, was in der Welt passiert, es gibt mehr Vegetarier, mehr Veganer, die Leute mögen ihr Essen milchfrei, glutenfrei. Ich wollte nicht, dass mein Social Media nur für eine bestimmte Art von Menschen bestimmt ist, die eine bestimmte Art von Essen essen. Von Anfang an gab es bei mir alles: Fisch, Fleisch, Hühnchen, vegetarisch. Das bin ich, meine Identität. Es ist für jeden etwas dabei.

Eine Brücke aus Essen eben. Gibt es ein Rezept, das ein Familienerbstück ist?
Ein anderes virales Video, das ich gemacht habe, ist ein Tbeet. Das ist wie ein irakischer Chamin, aber kein Chamin. Es besteht aus Reis und Huhn mit Baharat-Gewürz, das man mit der ganzen Soße bedeckt und über Nacht im Ofen lässt.

Ein Schabbat-Essen.
Genau. Dazu nahm ich das Rezept, mit dem ich bei meiner Mutter aufgewachsen bin, und machte es zu meinem eigenen. Eine einfache, schnelle Version des Tbeet.

War das das erfolgreichste Rezept?
Nein, das war der Blumenkohl. Ich lasse mich auch von meinen Followern inspirieren. Manche schreiben mir und fragen, ob sie zum Beispiel eine vegane Version des Tbeet machen könnte. Das war eine Herausforderung, also habe ich eine gemacht. Mit Blumenkohl anstelle von Hühnchen. Es ist das Lieblingsessen meiner Tochter.

Die gehackte Leber aus Gemüse ist genial.
Ich mag es, mich von meiner Herkunft leiten zu lassen. Zu Chanukka habe ich mein eigenes Aruk gemacht, eine Art irakische Latke. Außerdem verwende ich gern viel Dattelsirup, Granatapfelmelasse und natürlich Sumach. Sumach ist mein zweiter Vorname! Und wissen Sie was, die Leute hier kannten es nicht einmal! Auch nicht Ras el-Hanout oder Baharat. Also habe ich das Leben meiner Anhänger ein wenig verändert.

Es heißt, man könne das Herz eines Menschen durch den Magen erreichen. Was haben Sie als Erstes für Yossi gekocht?
Ich gebe es zu: Fettuccine.

Das ist eine Überraschung.
Wir waren frisch verheiratet. Ich wohnte fünf Minuten von meinen Eltern entfernt, und sie haben mich so verwöhnt, dass ich nicht einmal kochen musste. Ich habe mein Kochtalent erst entdeckt, als ich nach Amerika zog. Denn hier gab es niemanden, weder Mutter noch Vater. Und keine guten Restaurants. Selbst das Tomatenmark war wie … Ich musste die Aromen importieren. Also habe ich angefangen zu kochen. In Israel habe ich für Yossi und mich die einfachsten Nudeln oder israelisches Couscous gemacht, das gefrorene, das man in den Ofen schiebt. Aber dann sind wir in die USA gegangen, und ich habe aus der Not heraus angefangen zu kochen.

Sie haben es sich also selbst beigebracht?
Ich habe so viel gekocht und Essen zubereitet, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich es könnte. Ich habe meine eigene Challa gebacken, weil ich die Challa hier nicht mochte. Ich habe meine eigene Pizza gemacht. Und dann wurde mir klar, dass ich wollte, dass meine Kinder dasselbe Gefühl haben wie ich als Kind, wenn ich von der Schule nach Hause kam und meine Mutter dieses wunderbare Essen hinstellte. Also habe ich mit allen Lebensmitteln experimentiert, die ich hatte. Wie kann ich das Tomatenmark besser machen? Okay, ich füge mehr Knoblauch, Zucker und vielleicht etwas Paprika hinzu. Ich habe so viel gelernt.

Gibt es etwas, das Sie in Boston nicht finden können?
Fangen wir mit dem Kaffee an …

Hahahaha.
Auch das Gemüse hat in Amerika einen anderen Geschmack. Andererseits gibt es Früchte, die ich liebe und die ich in Israel nicht finden kann, wie zum Beispiel die frischen Beeren, die es hier überall gibt. Und die Äpfel in Boston sind die besten.

Glauben Sie, dass Kochen heilen kann?
Oh, mein Gott, ja! Ich werde Ihnen noch eine Geschichte erzählen. Nach dem 7. Oktober fühlte ich mich wie eingefroren. Ich wusste nicht, was ich tun, was ich posten sollte, wie konnte ich nach so etwas über Essen posten?! Aber nach ein paar Tagen begann ich zu verstehen, dass es den Menschen helfen könnte, um von den Nachrichten wegzukommen. Mein erstes Rezept war Ptitim und Huhn, und ich begann mein Voice-over mit den Worten: »Kochen ist meine Therapie.« Es war ein sehr einfaches Gericht, das fast zwei Millionen Aufrufe hatte. Es ging auf TikTok und Instagram viral. Also ja, ich glaube, Kochen ist heilend und so erfüllend. Man nimmt etwas und macht etwas daraus. Ich bin sicher, dass die Forschung eines Tages zeigen wird, dass Kochen heilsam ist, besonders in schwierigen Zeiten wie diesen. Es kann eine Brücke zwischen Menschen auf der ganzen Welt schlagen. Es ist eine Gabe, die ich bekommen habe, Baruch HaSchem. Und jeden Morgen, wenn ich mit meinem Kaffee in den Garten gehe, in den Himmel schaue und dem Gesang der Vögel lausche, sage ich: Danke!

Die vierfache Mutter stammt aus Haifa und wollte eigentlich nur ein paar Jahre in Boston bleiben, mittlerweile sind daraus 17 geworden.

Mit Ruhama Shitrit sprach Sophie Albers Ben Chamo.

Spanien

Mallorca als Vorbild

Das Stadtparlament von Palma hat eine Antisemitismus-Resolution verabschiedet – anders als der Rest des Landes

von Sabina Wolf  26.07.2024

Sport

Der Überflieger

Artem Dolgopyat ist in Israel ein Star. Bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio gewann der Turner Gold, 2023 wurde er Weltmeister. Nun tritt er in Paris an

von Martin Krauß  26.07.2024

Europäisches Parlament

»Zittert. Das hier ist nur der Anfang«

Die frisch gebackene französische Abgeordnete Rima Hassan hetzt gegen Israel

von Michael Thaidigsmann  25.07.2024

Ausstellung

Olympioniken im KZ Buchenwald

Auf dem Ettersberg bei Weimar treffen unterschiedlichste Biografien aufeinander

von Matthias Thüsing  25.07.2024

Frankreich

»Man ist schließlich französisch«

Ganz Paris feiert die Olympischen Spiele. Ganz Paris? Nicht alle Juden fühlen sich vom erwünschten »Wir-Effekt« angesprochen. Denn das Land bleibt zerrissen

von Sophie Albers Ben Chamo  25.07.2024

USA

Die zweite Wahl?

Mit dem Rückzug von Joe Biden und der Kandidatur von Kamala Harris könnte das Rennen um die Präsidentschaft noch einmal richtig spannend werden

von Michael Thaidigsmann  24.07.2024

Jüdische Emigration

Die Niederlande - Ein Ort der Zuflucht für Juden?

Die Historikerin Christine Kausch nimmt das Leben jüdischer Flüchtlinge in den Blick

von Christiane Laudage  24.07.2024

Vor 80 Jahren

Von Rhodos nach Auschwitz

1944 wurden 2000 Jüdinnen und Juden von Rhodos nach Auschwitz deportiert. Nur wenige überlebten

von Irene Dänzer-Vanotti  23.07.2024

Jerusalem

Nach Gaza entführter Holocaust-Experte für tot erklärt 

Der Historiker Alex Dancyg ist in der Geiselhaft umgekommen

 22.07.2024