Die Lage in Gaza ist schwierig. Das bestätigte das Büro des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu am Anfang der Woche. Nachdem der internationale Druck wegen der humanitären Situation in der Enklave massiv zugenommen hatte, reagierte die Regierung in Jerusalem am Wochenanfang und verabschiedete eine neue Politik für die Verteilung der Hilfe für die notleidende palästinensische Bevölkerung.
Die Herausforderung, eine ausreichende Lebensmittelversorgung für Gaza zu gewährleisten, nahm in den letzten Monaten immer komplexere Dimensionen an. Vor Oktober 2023 machte die Landwirtschaft etwa 44 Prozent der Lebensmittelproduktion aus. Nach mehr als eineinhalb Jahren Krieg aber beruht die gesamte Versorgung auf humanitärer Hilfe. Die wird primär über vier von den USA und Israel unterstützten Verteilungszentren der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) und über das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen geleistet.
Israelische Regierung will Kalorienwert jedes Lastwagens kennen
Israelische Regierungsvertreter betonten, dass »Israel die Einfuhr von Hilfsgütern nicht verhindert und kein Mangel zur Versorgung der Bewohner Gazas besteht«. Man kenne »den Kalorienwert eines jeden einfahrenden Lastwagens und weiß, für wie viele Menschen er ausreicht«. Den UN-Organisationen wirft die Regierung vor, die Lebensmittel und Vorräte nicht abzuholen und in der Sonne verrotten zu lassen.
Die israelische Armee gab an, dass allein in der vergangenen Woche mehr als 250 Hilfslastwagen entladen wurden, die sich den Hunderten von Lastwagen an den Übergängen anschlossen, die darauf warteten, abgeholt zu werden. »Zusätzlich wurden rund 600 Lastwagen von den Vereinten Nationen und internationalen Organisationen verteilt«, hieß es. »Die israelische Armee wird über den Koordinator für Regierungsaktivitäten in den Palästinensergebieten COGAT weiterhin mit internationalen Organisationen zusammenarbeiten, um den Inhalt von Hunderten von Lastwagen zu verteilen, die noch nicht abgeholt wurden«, machte die IDF klar.
Lkw brachten 1.900 Kalorien pro Tag pro Person nach Gaza
Internationale Hilfsorganisationen indes bestreiten, dass die Lieferungen ausreichen. Das WFP berichtete, »die Hungerkrise in Gaza hat neue und erstaunliche Ausmaße der Verzweiflung erreicht, wobei ein Drittel der Bevölkerung mehrere Tage nichts isst«. Bei der Untersuchung von 56.000 Kindern im Juli sei bei fast zehn Prozent akute Mangelernährung festgestellt worden. Die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) erklärte, »Datensimulationen deuten darauf hin, dass der durchschnittliche Bewohner Gazas nur 1.400 Kalorien pro Tag erhält«. Der Schwellenwert zur Ernährungssicherheit liege jedoch bei etwa 1.900 Kalorien täglich.
Zum Vergleich: Ein erwachsener Mann braucht je nach Alter zwischen 2.000 und 2.500 Kalorien pro Tag, eine Fra zwischen 1.600 und 1.900 Kalorien.
Im Juli gelangten rund 71 Lastwagen pro Tag nach Gaza, von denen etwa die Hälfte die GHF ansteuerte, und die andere Hälfte zu Lagerhäusern der UN und anderer Hilfsorganisationen fuhr. Jeder Lastwagen bringt laut einer COGAT-Studie einen durchschnittlichen Kaloriengehalt von 56,9 Millionen Kalorien in die Enklave. Die resultierende Versorgung, die im Juli eintraf, belief sich demzufolge auf 1.923 Kalorien pro Person und Tag.
COGAT gab zudem an, dass die Hamas versuche, die Operationen der GHF-Standorte zu stören. Berichte bestätigen gleichfalls, dass die Verteilzentren ohne festen Zeitplan betrieben werden und die Operationen auch von den ankommenden Menschenmengen abhängen und bei Überfüllung geschlossen werden können. Entsprechend dieser Erkenntnisse ist es nicht realistisch anzunehmen, dass die Bewohner Gazas zu jeder Zeit mit der ausreichenden Menge an Kalorien durch Lebensmittel versorgt werden.
»Es wurden gewaltige Lügen über Israels Krieg verbreitet. Das heißt nicht, dass die Hungersnot nicht real ist. Sie ist es«, resümierte der rechtsgerichtete israelische Journalist Amit Segal des israelischen Fernsehkanals 12, als er eine Studie über die Mehlpreise in Gaza der Hebräischen Universität analysierte.
Ärztevereinigung fordert Sicherstellung der medizinischen Versorgung
In der vergangenen Woche äußerte sich die israelische Ärztevereinigung und schickte ein Schreiben an hochrangige Verteidigungsbeamte, in denen sie die »Sicherstellung der medizinischen Versorgung und grundlegender humanitärer Bedingungen« für die Zivilbevölkerung Gazas forderte.
Nachdem Israel zwischen März und Mai Hilfsgüter für den Gazastreifen blockiert hatte, war es für die anschließende Verteilung stark auf die von den USA und Israel unterstützte GHF angewiesen, die gegründet wurde, um zu verhindern, dass Hilfsgüter an die Hamas umgeleitet werden. Allerdings kam es an GHF-Standorten fast täglich zu Vorfällen, bei denen IDF-Truppen in Richtung von Gaza-Bewohnern schossen. Die israelische Armee hat mindestens drei Tote durch »ungenauen Artilleriebeschuss« bestätigt. Der Beschuss habe aber nicht den Zivilisten gegolten. Das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium gab an, in der Nähe der Stationen seien mehr als 1000 Menschen getötet worden. Israel hält die Zahl jedoch für stark übertrieben.
Das Außenministerium in Jerusalem indes argumentiert: »Während die Lage im Gazastreifen schwierig ist und Israel daran arbeitet, die Hilfslieferungen sicherzustellen, profitiert die Hamas davon, den Eindruck einer humanitären Krise zu schüren. »So gibt sie unbestätigte Zahlen an die Medien weiter und verbreitet Bilder, die von der Hamas sorgfältig inszeniert oder manipuliert wurden.«
Forscher: Gaza Humanitarian Foundation ist ein Fehlschlag
Dass die »Berichte der Hamas natürlich Lügen sind«, bestätigt auch Michael Milshtein, Experte für die palästinensische Arena und Leiter des Forums für Palästinensische Studien am Moshe-Dayan-Center für Nahost- und Afrikastudien an der Tel Aviv Universität. Doch er kritisiert auch die Politik der humanitären Hilfe Israels: »Leider hat die israelische Regierung in Gaza eine Fantasie statt einer Strategie eingesetzt. Das GHF war das große Versprechen, dass zwischen den Palästinensern und der Hamas ein Puffer geschaffen werde und die Terrororganisation auf diese Weise geschwächt werde. Doch heute müssen wir feststellen, dass dieses Projekt, und eigentlich die gesamte humanitäre Politik der Regierung, ein einziger großer Fehlschlag ist.« Denn wenn Israel ad hoc eine massive Änderung der humanitären Hilfe startet und den Ägyptern und Jordaniern erlauben muss, Hilfskonvois nach Gaza zu bringen, könne man es nicht anders sehen, so Milshtein.
Am Sonntag ergriff das israelische Militär eine drastische Initiative und kündigte die Einstellung der Militäroperationen für zehn Stunden täglich in ausgewählten Teilen Gazas an, um neue Hilfskorridore zu ermöglichen. Zudem wurden Not-Luftabwürfe in Zusammenarbeit mit Ägypten, Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten durchgeführt. Doch bei diesen Lieferungen plündere die Hamas massiv, geht aus einem Bericht der britischen-katarischen Zeitung Al-Araby Al-Jadeed hervor. Mehr als die Hälfte der ägyptischen Hilfslastwagen, die am Sonntag in den Gazastreifen einfuhren, seien »von Unbekannten ausgeraubt und ihre Ladung später auf lokalen Märkten verkauft worden«. Es ist mittlerweile ein bekanntes Hamas-Schema.
Immer mehr Kritik an Verteilpolitik
In einem Interview mit der »Times of Israel« Anfang dieser Woche erklärte auch der ehemalige US-Gesandte für humanitäre Hilfe, David Satterfield, dass die Hilfe der Rothalbmondgesellschaften im Gegensatz zur UN-Hilfe, die größtenteils dokumentiert sei, anfälliger für Diebstahl durch die Hamas und kriminelle Banden sei.
Auch US-Präsident Donald Trump beklagte die Beschlagnahmung eines Großteils der Hilfsgüter: »Wir haben Gaza viel Geld für Lebensmittel und alles andere gegeben. Ein Großteil dieses Geldes wird von der Hamas gestohlen, und ein Großteil der Lebensmittel wird gestohlen.« Gleichfalls machte er klar, in Gaza gebe es »eine echte Hungersnot, ich sehe es. Das kann man nicht vortäuschen.« Trump sagte zu, dass sich die USA »noch stärker engagieren wollen«.
Auch in Israel selbst wird die Regierung kritisiert. Oppositionsführer Yair Lapid erklärte auf einer Pressekonferenz, Netanjahus Regierung habe im Gaza-Krieg versagt. Seine Einschätzung basiere auf Geheimdienst- und operativen Informationen, die er aufgrund seiner Position erhalte. »Es ist eine totale Katastrophe« und sei ein strategisches Versagen, das zu einem operativen und politischen Versagen führe. »Die israelische Regierung weiß nicht mehr, warum in Gaza weiterhin Soldaten sterben.«
Sollte der Krieg nicht sofort beendet werden, würden die Geiseln nicht nach Hause zurückkehren, Soldaten würden getötet und die »humanitäre Katastrophe« in Gaza würde sich noch verschlimmern, warnte er. Lapid betonte, es gebe eine Alternative und forderte einen umfassenden Geiseldeal. Danach würde sich die IDF aus Gaza zurückziehen und die »Arbeit zur Eliminierung der Hamas« aus dem Umkreis der Enklave fortsetzen. Die zivile Verwaltung würde von einer »Koalition gemäßigter arabischer Länder unter Führung Ägyptens« übernommen, führte Lapid aus.
Die Regierung indes erklärt: »Wir werden weiterhin verantwortungsvoll handeln, die Freilassung unserer Geiseln und die Niederlage der Hamas anstreben. Nur so können wir Frieden für Israelis und Palästinenser gleichermaßen sichern.« Am Wochenbeginn veröffentlichte die Tageszeitung »Maariv« einen Bericht, demzufolge Israel mit der Annexion von Teilen des Gazastreifens beginnen werde, sollte die Hamas die Bemühungen der Vermittler um einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln im Gazastreifen erneut ablehnen. Bis dahin allerdings, heißt es aus Jerusalem, werde man den Verhandlungen eine weitere Chance geben.