Hamed Abdel-Samad und Henryk M. Broder verbindet eine langjährige Freundschaft. Für die ARD-Serie »Die Deutschland-Safari« reisten sie vor mehreren Jahren gemeinsam quer durch die Republik und später sogar durch halb Europa. Doch nun steht ihre Freundschaft auf dem Prüfstand: Vor wenigen Wochen erhob Abdel-Samad den schwerwiegenden Vorwurf, Israel begehe im Gazastreifen einen Genozid. Wie erklärt Abdel-Samad diesen Vorwurf? Wie reagiert Broder? Was bleibt von einer Freundschaft, wenn es um Krieg, Tod und politische Wahrheit geht?
Herr Broder, Herr Abdel-Samad, Sie verbindet seit mehr als 15 Jahren eine enge Freundschaft. Können Sie sich noch an Ihre erste Begegnung erinnern?
Henryk M. Broder: Unser gemeinsamer Bekannter Michael Brenner aus München hat uns einander empfohlen. Hamed hatte gerade sein erstes Buch geschrieben und in Deutschland vorgestellt: Mein Abschied vom Himmel. Und Brenner meinte zu mir, er hätte einen wahnsinnig interessanten Menschen getroffen, den müsse ich kennenlernen. Ja, und dann haben wir uns getroffen – und zwar in Kopenhagen. Liebe auf den ersten Blick, würde ich sagen.
Hamed Abdel-Samad: Man muss schon auf die Umstände des Treffens eingehen, die waren sehr speziell. Wir hatten uns nicht einfach nur in Kopenhagen getroffen, sondern in der Freien Republik Christiania. Das ist ein Alternativviertel in der dänischen Hauptstadt, in dem sich die Linken austoben. Und in diesem Viertel gab es eine Straße, die nennt sich die Pusher Street. Da verkaufen junge Männer öffentlich auf der Straße Drogen. Überall waren Plakate mit der Aufschrift: Fotografieren verboten! Henryk ließ sich davon nicht beeindrucken, zog seine Kamera raus und begann, ein Foto nach dem anderen zu knipsen. Ich warnte ihn und sagte: Mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen! Kurz darauf kamen ein paar junge, sehr kräftige Männer auf ihn zu und sagten, er solle ihnen die Kamera geben. Da sagte er freundlich, aber bestimmt: Nein! Und dann hat er die Kamera in seiner Hosentasche versteckt. Sechs, sieben kräftige junge Männer haben es nicht geschafft, ihn zu überwältigen …
Broder: ... am Ende leider schon.
Abdel-Samad: Sie haben Henryk schließlich zu Boden gezogen. Und trotzdem: Minuten vergingen, sie rissen ihm die Hose auf, bis sie ihm die Kamera wegnehmen konnten und sie in eine brennende Tonne geschmissen haben. Henryk ist dann aufgestanden, ging zur Mülltonne und steckte seine Hand mitten ins Feuer, um seine Kamera wieder herauszuholen. Die war aber schon dahin. Direkt danach sagte er lächelnd: Lass uns Eis essen gehen, Hamed! In diesem Moment, tatsächlich war das für mich so ein Prometheus-Moment, ich dachte: Der Typ spinnt total, aber ich liebe diesen Kerl.
Was genau schätzen Sie an ihm?
Abdel-Samad: Henryk sagt, was er denkt. Er tut, was er für richtig hält, ohne Rücksicht auf Verluste. Bei ihm gibt es keinen doppelten Boden. Und er lässt sich nicht einschüchtern. Das sind Eigenschaften, die heutzutage nicht viele haben.
Was schätzen Sie an Herrn Abdel-Samad?
Broder: Erst einmal ist Hamed ein kluger Denker. Zweitens ist er ein ausgezeichneter Schreiber. Und drittens ist er jemand, der sich nicht an die gute alte deutsche Parole »Wer A sagt, muss auch B sagen« hält. Hamed war früher ein überzeugter Islamist. Und irgendwann hat er angefangen, selbst zu denken. Er hat sich selbst ins Denken geschleudert. Das finde ich großartig. Das ging mir zwei, drei Mal in meinem Leben auch so, und das ist eine in Deutschland wenig verbreitete Tugend. Wenn du etwas anfängst, musst du es auch zu Ende bringen. Nach der Devise von Richard Wagner: Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun. Auf diese Weise ist Hamed nie Wagnerianer geworden – zum Glück.
Der arabische Israeli Ahmad Mansour hat einmal gesagt, Tel Aviv sei für ihn ein Erweckungserlebnis gewesen, nachdem er als junger Mann Islamist gewesen ist. Was hat bei Ihnen dazu geführt, dass Sie den Extremismus überwinden konnten?
Abdel-Samad: Ich bin zu den Muslimbrüdern gekommen, weil ich einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn habe. Ich lebte in einer Diktatur, wo Menschen wie ich nichts zu sagen hatten. Ich komme aus einem Dorf: Alles wurde dort von oben geregelt. Mein Vater war ein Diktator zu Hause. Mein Präsident in Ägypten war ein Diktator in Kairo, und ich hatte als Student wenig Gestaltungsmöglichkeit, politische Teilhabe war unvorstellbar. Und ausgerechnet die Muslimbrüder hatten mir das erstmals möglich gemacht. Wir wollten Ägypten verändern, wir wollten die Diktatur besiegen, wir wollten soziale Gerechtigkeit haben. Ich war damals 18, das hat mir gut gefallen. Generell lag zu der Zeit Aufbruch in der Luft.
Wie meinen Sie das?
Abdel-Samad: Ich habe 1989 angefangen zu studieren, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer. Der Diktator in Guatemala wurde gestürzt, der Diktator in Rumänien ebenfalls. Nelson Mandela wurde aus dem Gefängnis entlassen. Und dann gab es diese Fatwa gegen Salman Rushdie und die großen Diskussionen darüber: Darf man überhaupt etwas über den Propheten schreiben? Das waren bewegende Fragen, die mich geprägt haben. Zu der Zeit war ich noch Marxist. Aber die Marxisten hatten überhaupt kein Ziel, jedenfalls kein klares. Sie ergingen sich in Parolen. Es war keine Bewegung, die tatsächlich Veränderung haben wollte. Es war ein intellektueller Luxus, Marxist zu sein. Die Muslimbrüder dagegen hatten Pläne. Sie wollten einen Sturz des Regimes. Das imponierte mir. Jedenfalls eine Zeit lang.
Wann änderte sich das?
Abdel-Samad: Bis ich merkte, dass sie sich nicht viel vom ägyptischen Diktator Mubarak unterschieden. Ich musste feststellen: Auch die Muslimbrüder sind diktatorisch. Für sie zählt das Individuum nicht. Es gibt eine Szene, die mir die Augen öffnete. Bei den Muslimbrüdern gab es immer so eine Art Sommercamp, um sich auf den Dschihad vorzubereiten. Und einmal haben sie jedem von uns eine Orange in die Hand gegeben. Wir mussten durch die Wüste laufen, über zwei oder zweieinhalb Stunden mit dieser Orange. Und dann kam der Emir, also der Gruppenführer, und sagte: Jetzt alle auf die Knie sitzen! Das taten wir. Und jetzt die Orange schälen! Und dann? Wir haben uns gefreut, jetzt endlich etwas Saftiges zu essen, unseren Durst zu stillen. Dann hat er gesagt: Jetzt die Frucht im Sand begraben und die Schale essen!
Die komplette Selbstaufgabe und Selbsterniedrigung …
Abdel-Samad: Ja. Das hat Folgen gehabt. Nicht bei meinen Mitstreitern. Die haben alle genüsslich die Schale gegessen und dachten, das ist Überlebenskampf, das ist für den Dschihad. Aber für mich war das eine, wie sagt man: Verneinung meines Selbst. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis, danach habe ich mit den Muslimbrüdern gebrochen. Ich wollte keiner Herde folgen. Ich wollte meinen Weg selbst suchen. Und dieser Weg begann mit meinem Abschied vom Islamismus.
Hätten Sie es damals für möglich gehalten, dass einer Ihrer besten Freunde Jude sein würde?
Abdel-Samad: Ausgeschlossen! Ich war ein Kind meiner Zeit. Ägypten stand jahrzehntelang im Krieg mit Israel. Mein Vater war extrem traumatisiert aus dem Sechstagekrieg zurückgekommen und hat kein gutes Wort über Israel verloren. Im Gegenteil. Ich glaube, seine Traumatisierung wirkte auch auf mich. Er war danach ein gebrochener Mensch.
Inwiefern?
Abdel-Samad: Er machte Israel und den Krieg dafür verantwortlich, dass er sich so stark verändert hatte. Er war vom Schlachtfeld geflohen und hatte sich bei den Beduinen versteckt.
Broder: … das spricht für deinen Vater!
Abdel-Samad: Er sah das aber anders. Er hatte starke Schuldgefühle, weil er geflohen war, während sein bester Freund vor seinen Augen durch einen Luftanschlag der israelischen Armee zerfetzt wurde. Das ist die Geschichte, die bei uns zu Hause immer erzählt wurde oder selbst durch das Schweigen immer mitschwang. Dass wir einen Feind haben: Israel. Und dass der Feind übermächtig ist und wir uns rächen müssen. Das Land befreien. Damit bin ich aufgewachsen.
Es gibt wohl keinen Intellektuellen in Deutschland, der einen empathischeren Blick auf Israel hat als Sie, Herr Broder. Gab es in Ihrer Beziehung irgendwann einmal den Punkt, an dem das zwischen Ihnen stand?
Broder: Nein. Nie. Das Einzige, was zwischen uns stand, war die Art, wie Hamed Auto fährt.
Abdel-Samad: (schmunzelt) Nachdem ich mich von dieser Ideologie befreit hatte, war Israel für mich ein gewöhnliches Land im Nahen Osten, mit Besonderheiten wie jedes andere Land in der Region auch.
Was macht Israel in Ihren Augen besonders, Herr Abdel-Samad?
Abdel-Samad: Israel ist für die Länder um sich herum Chance und Provokation zugleich. Es ist ein kleines, aber hoch innovatives und starkes sowie erfolgreiches Land. Für viele Menschen in der Region ist Israel deshalb eine narzisstische Kränkung. Wenn Israel das schafft, warum schaffen es dann seine Nachbarn nicht? Und ich wusste immer, dass Henryk eine besondere Beziehung zu Israel hat. Er versteht auch sofort, wenn Hass und Antisemitismus bei »Israelkritik« mitschwingen. Wann immer ich irgendeinen Kritikpunkt formuliert habe, wusste er sofort, ich mache das nicht aus Hass, sondern aus einem moralischen Impuls heraus.
Stimmt das, Herr Broder?
Broder: Ja, Hameds Kritik war nie fundamental, immer nur punktuell, bezogen auf das, was Israel tut oder unterlässt. Ganz anders als bei Leuten wie Martin Walser, Jakob Augstein oder Günter Grass.
Springen wir ins Heute. Herr Abdel-Samad, Sie haben jüngst mit einem Post zu Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas im Gazastreifen für eine große Kontroverse gesorgt – und massive Kritik auf sich gezogen. Sie beschuldigen Israel, einen Genozid zu begehen, einen Völkermord. Herr Broder, diese Vorwürfe würden Sie – vollkommen zu Recht – jedem um die Ohren hauen, der sie benutzt. Warum nicht auch in diesem Fall?
Broder: Es gibt da mehrere Gründe. Erstens finde ich, dass man eine Freundschaft nicht leichtfertig aufgeben sollte. Und ich habe schon oft Diskussionsräume verlassen, ohne »Auf Wiedersehen« zu sagen. Aber eine mehrjährige Bindung, eine mehrjährige Freundschaft und Zusammenarbeit, das wollte ich nicht riskieren. Zweitens: Es gibt Sachen, mit denen ich nicht übereinstimme, wo ich vielleicht auch genau der entgegengesetzten Meinung bin. Aber ich finde, dass man sie äußern können darf.
Israel muss kritisiert werden dürfen, so wie jeder andere Staat auch. Aber das ist doch jeden Tag in Deutschland der Fall. Wenn es etwas in diesem Land nicht gibt, dann eine Leerstelle beim Thema Kritik an Israel. Doch hier geht es um den Vorwurf des Genozids und des Völkermords: Warum nicht gleich der Vorwurf des Brunnenvergiftens oder des Tötens von Babys für die Pessach-Mazzot?
Broder: Es gibt Themen, über die ich nicht diskutiere. Ich diskutiere nicht über Todesstrafe, Folter, Kindesmissbrauch, Erpressung, Entführung, Gewalt gegen Frauen. Das ist alles ausdiskutiert. Liberale Gesellschaften, so höre ich immer, zeichnen sich dadurch aus, dass man über alles reden kann. Ich finde, eine liberale Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass vieles abgeschlossen ist und man eben nicht mehr über alles reden muss. Also gleiche Rechte, die Behandlung von Minderheiten. Das Zweite ist: Die Sache mit Israel ist extrem kompliziert. Ich bin nicht der Meinung, dass ein Völkermord stattfindet. Aber ich kann verstehen, wenn jemand aus einer gewissen emotionalen Bindung und aufgrund seiner Herkunft diesen Eindruck hat. Ich glaube, Hamed hat zu Arabern und zur arabischen Kultur eine Einstellung wie ich zu Juden und zum jüdischen Staat, es ist ein Mix aus Rationalität und Sentimentalität.
Aber von legitimer Kritik bis zum Völkermord-Vorwurf ist ein weiter Weg …
Broder: Ich finde, dass der israelische Einsatz in Gaza durchaus diskutiert werden kann. Die Frage, ob er verhältnismäßig ist, ist eine berechtigte Frage. Aber wer sie stellt, muss mit zweierlei Optionen als Antwort rechnen: Der Einsatz ist nicht verhältnismäßig, es gibt zu viele Opfer. Oder: Er müsste noch stärker sein. Niemand in Israel hat damit gerechnet, dass diese Armee sich anderthalb Jahre lang mit einer Gangsterbande herumschlagen muss. Und das zeigt doch nur, dass Israel seine volle militärische Kraft nicht entfaltet, eben um Zivilisten zu schonen. Von der militärischen Potenz her könnte Israel Gaza in drei Tagen plattmachen. Darüber muss auch geredet werden. Zugleich: Wenn ich sehe, dass auch Hilfstransporte beschossen wurden, bricht mir das Herz. Genauso, wenn ich lese, dass die Israelis drei Geiseln erschossen haben, die auf sie zugerannt kamen. Es ist Krieg. Und im Krieg geschehen schlimmste Fehler.
Ist es nicht genau das, was auch von der Hamas beabsichtigt wurde: dass Israel, im Kampf gegen die Terroristen, die sich hinter der eigenen Zivilbevölkerung verstecken, das Verständnis der Welt verliert?
Broder: Natürlich. Der Hamas ist es egal, ob es 500, 5000 oder 500.000 Tote gibt. Sie opfern ja ständig die eigenen Leute. Ich glaube, dass Israel in eine Art von Falle getappt ist. Und trotzdem: Wenn ich lese, was die Hamas am 7. Oktober 2023 angerichtet hat, muss ich mich wirklich zusammenreißen, um nicht einen unglaublichen Hass zu entwickeln und selbst in gedankliche Brutalität zu geraten. Es kostet mich einige Mühe, wieder zurückzukommen. Oder wenn ich die Flüchtlinge in Gaza sehe, die von einem Ort zum anderen laufen. Es ist schrecklich. Kann ich noch etwas zu Hamed nachtragen?
Bitte!
Broder: Ich denke, mir wäre aufgefallen, wenn er Antisemit wäre!
Aber das ist doch gar nicht die Frage …
Broder: Darum geht es aber. Ich kenne keinen Text von Hamed, in dem er das Existenzrecht Israels infrage stellt, direkt oder indirekt. Bei Jakob Augstein zum Beispiel ist es anders. Deutsche wie Augstein oder Grass, die auf Israel zeigen und sagen »Schaut mal!«, haben die Rehabilitation ihrer Opas und Uropas im Sinn. Das hat Hamed nicht. Die Frage, ob Hamed recht hat, steht auf einem anderen Blatt. Aber er hat das Recht, diese Meinung zu sagen.
Auch mit diesem Wort?
Broder: Ich halte das auch nicht für richtig, aber erstens weiß ich, wer es sagt, zweitens weiß ich, welche Motivation dahinter steckt, und drittens ist es inzwischen ganz normale Übung, immer zum größten und schlimmsten Argument zu greifen. Die Tierschutzorganisation PETA hat vor Jahren eine Wanderausstellung organisiert, auf der Szenen aus Konzentrationslagern mit Aufnahmen aus Schlachthöfen parallelisiert wurden, dazu die Zeile »Der Holocaust auf ihrem Teller« und ein Zitat von Isaac Bashevis Singer: »Wo es um Tiere geht, wird jeder zum Nazi.« Es war geschmacklos, es war falsch, es war verkehrt. Man darf es nicht durchgehen lassen. Aber es hatte eine andere Qualität. Es war auch keine Leugnung des Holocaust, im Gegenteil. Es hat eine andere Wertigkeit, wenn Studenten »From the River to the Sea« schreien oder »Free Gaza from German Guilt«. Das hat Hamed nie getan. Er hat bei mir ein Guthaben – und das ist nicht aufgebraucht.
Sie lassen Herrn Abdel-Samad Äußerungen durchgehen, für die Sie andere massiv kritisieren würden?
Broder: Ja. Ich lasse meiner Tochter und meiner Frau auch mehr durchgehen als anderen.
Herr Abdel-Samad, war es von Ihnen eine kalkulierte Provokation, den Israelis einen angeblichen Völkermord vorzuwerfen?
Abdel-Samad: Nein. Ich wollte nicht provozieren. Der Genozid-Vorwurf stammt auch nicht aus meiner emotionalen Bindung zur arabisch-muslimischen Welt. Henryk weiß ganz genau, dass ich mich von dieser Bindung längst gelöst habe. Es gibt kaum jemanden, der diese Kultur stärker kritisiert hat als ich. Meine Äußerung über Israel entspringt meinem Gewissen, deshalb ziehe ich diesen Begriff nicht zurück. Er hat eine Welle der Diskussionen zwischen Juden, Arabern und Deutschen losgetreten, die sonst nirgendwo stattfinden. Ich habe das auf Twitter und auf Facebook geschrieben, und darunter gibt es mittlerweile über 7000 Kommentare. 7000! Von Menschen, die sich nie zuvor begegnet sind.
Sie ziehen den Begriff nicht zurück, weil das Ergebnis zu etwas Gutem, sprich Dialog geführt hat?
Abdel-Samad: Ich musste so hart auf den Tisch hauen, weil ich gesehen habe, dass etwas getan werden muss, etwas, das die Leute wachrüttelt. Und ich habe das jetzt genau mit diesem Begriff getan. Der Begriff »Völkermord” ist sowohl politisch als auch juristisch geprägt. Juristisch wird er nach der Vollendung eines Völkermords verwendet, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Politisch und medial wird er dagegen als Mahnung verwendet, damit ein beginnender Genozid nicht vollendet wird. Ich bin kein Jurist. Das müssen andere beurteilen, was sie im Moment aber nicht können, weil sie keinen Zugang zu Gaza haben.
Wie kann man ohne ausreichend Fakten von Genozid reden?
Abdel-Samad: Gegen Netanjahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister gibt es natürlich Anklagen. Die Haftbefehle basieren auf Fakten. Ich weiß, Henryk hat ein Problem damit, aber ich bin dafür, dass Israels Premier Netanjahu und sein Verteidigungsminister vor Gericht stehen und ihre Unschuld beweisen. Und die Anklage versucht, Beweise für ihre Vorwürfe vorzulegen. Die Verweigerung Netanjahus, diesen Schritt zu gehen, macht ihn zumindest verdächtig, Kriegsverbrechen begangen zu haben, für die er vermutlich nie zur Rechenschaft gezogen werden kann, höchstens von der israelischen Justiz selbst, aber nicht international. Die Frage lautet also: Wenn Netanjahu es schafft, die israelische Justiz zu unterwandern, was er ja vorhat, wer kann ihn dann zur Rechenschaft ziehen?
Warum sollte Netanjahu vor den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) treten, wenn Israel sich nicht den Römischen Statuten unterworfen hat, Palästina als Staat nicht existiert, eine Voraussetzung für Ermittlungen des Strafgerichtshofs, und Israel eine eigene funktionierende Justiz hat, was die Zuständigkeit des ICC eigentlich ausschließt?
Abdel-Samad: Nun, was in Gaza stattfindet, ist aus meiner Sicht ein kultureller Völkermord. Ich unterstelle Israel nicht die Absicht, alle Palästinenser in Gaza töten zu wollen. Nein, das ist nicht das Ziel. Aber ich unterstelle, dass Israel versucht, Gaza unbewohnbar für die Palästinenser zu machen, damit sie verdrängt werden. Entweder Richtung Sinai, Teile Richtung Syrien und Teile in Richtung Jordanien oder Libyen. Israelische Politiker haben kein Hehl daraus gemacht. Die Pläne dafür gab es bereits vor dem 7. Oktober. Die Hamas lieferte Israel lediglich die Ausrede. Wenn Israel die gesamte Infrastruktur zerstört und fast 90 Prozent aller Häuser und Wohneinheiten entweder vollständig zerstört oder unbewohnbar macht, dann spricht das für mich eine klare Sprache. Dann heißt es: ethnische Säuberung. Das ist auch nicht viel besser!
Teilen Sie Herr Broders Überzeugung, dass Israel in die Falle der Hamas getappt ist?
Abdel-Samad: Ob es sich um eine Falle handelte oder ob es ein willkommener Anlass war, sei dahingestellt. In beiden Fällen hat Israel seine moralische Überlegenheit, seine moralische Substanz verloren. So sehen es viele Juden weltweit, auch in Israel. Übrigens verwenden sie auch den Begriff »Genozid«. Und ich glaube, mit jedem Kind, das jetzt in Gaza stirbt, stirbt auch ein Stück der jüdischen Seele. Israel galt früher als sicherer Hafen für die jüdische Identität. Doch inzwischen wird es zunehmend zur Belastung für diese Identität.
Von Israels Ex-Premierministerin Golda Meir ist sinngemäß der Spruch überliefert: Wir werden es den Arabern nie verzeihen, dass sie uns angegriffen haben und wir ihre Söhne töten mussten.
Abdel-Samad: Auch hinter diesem Spruch verbirgt sich ein Teil des Problems. Selbst wenn man tötet, will man sich als das eigentliche Opfer darstellen. Mit dieser Einstellung ist kein Frieden zu schaffen. Ich habe die jüdische Religion und die jüdische Geschichte studiert und gelehrt. Ich habe gelernt, Judentum bedeutet: Tikkun Olam. Die Reparatur der Welt. Verantwortung tragen, Mitgefühl, Nächstenliebe. Ich stelle fest, das ist nicht die Seite, die Israel jetzt der Welt zeigt.
Vielleicht auch nicht zeigen kann im Kampf gegen eine Terrororganisation, die ihr Gegenüber auslöschen will? Zur jüdischen Seele gehört ja auch, nach 1945, nach der Schoa, nie wieder Opfer zu werden, sich zur Wehr zu setzen.
Abdel-Samad: Aber da stellt sich die Frage, ob man nach 50.000 Toten immer noch von sich selbst als Opfer reden darf.
Sie übernehmen Angaben der Hamas, die nicht zwischen Terroristen und Zivilisten unterscheiden. Zahlen von Massenmördern, zu deren Handwerk das Lügen gehört.
Abdel-Samad: Das sind die Zahlen der Vereinten Nationen und internationaler Organisationen. Wenn man die Zahl der Bomben und Raketen zusammenrechnet und die Zahl der zerstörten Häuser berücksichtigt, kann man, glaube ich, mit gutem Gewissen sagen, dass über 50.000 Menschen gestorben sind. Zudem werden immer noch Zehntausende vermisst, die vermutlich unter den Trümmern liegen. Unabhängig davon, wie viele Opfer es gibt, sollte es nicht spurlos an uns vorbeigehen.
Broder: Das geht es auch nicht. Und ich glaube, dass du leider recht hast mit der belasteten jüdischen Seele. Die Frage wäre nur, was nach dem 7. Oktober eine adäquate Reaktion gewesen wäre. Also sicher nicht die Bitte, das Musikfestival jetzt gemeinsam fortzusetzen. Was wäre adäquat gewesen?
Abdel-Samad: Ich bin kein großer Fan von Joe Biden gewesen. Ich hielt ihn für einen unfähigen Präsidenten. Aber er hat Netanjahu nach dem 7. Oktober eingeladen, nach Amerika, und hat gesagt: Macht nicht den Fehler, den wir im Irak gemacht haben. Wir waren nach dem 11. September so schockiert, dass wir um uns geschlagen haben, und das hat die Sache nur noch schlimmer gemacht. Sowohl in Afghanistan als auch im Irak. Und ich fürchte, es wiederholt sich genau das.
Durch den militärischen Druck samt diplomatischen Bemühungen konnten Hunderte Geiseln befreit werden …
Abdel-Samad: Durch Verhandlungen, niemals durch militärischen Druck.
Herr Broder, Herr Abdel-Samad, wie erklären Sie sich, dass in Deutschland medial und politisch fast immer nur über die israelische Regierung gesprochen wird, aber fast nie über die Hamas und ihre Unterstützer, die es in der Hand haben, diesen Krieg binnen Sekunden zu beenden?
Broder: Ich kann es mir nicht erklären. So wie ich es mir nicht erklären kann, warum nicht täglich vor der russischen Botschaft Unter den Linden gegen den Massenmord an den Ukrainern demonstriert wird, gegen die Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur und die Russifizierung Tausender ukrainischer Kinder. Komisch, dass in diesem Fall nicht von einem Genozid die Rede ist. Und wenn ich lese und höre, wer sich alles offen oder heimlich hinter Putin stellt, dann muss ich mich schon sehr zusammenreißen …
Abdel-Samad: Nach dem 7. Oktober wurde in den Medien viel über die Hamas gesprochen. In den ersten Kriegsmonaten wurden palästinensische und arabische Stimmen aus den deutschen Medien nahezu vollständig verbannt, und es beherrschte nur die israelische Erzählung die mediale Welt. Doch irgendwann kippte die Stimmung. Die hohe Zahl der getöteten Zivilisten und Kinder in Gaza konnte nicht ignoriert werden. Dann kam die Kritik an Israel, weil es sich außerhalb des Völkerrechts bewegt und sich wie ein verstörtes Kind verhält, das wild um sich schießt, danach weint und sich als Opfer darstellt. Das Interesse der Weltöffentlichkeit an Israel rührt von dessen Sonderstatus in der Welt her. Aus dem gleichen Grund erhält ein Terroranschlag in Israel mehr mediale Aufmerksamkeit als ein Anschlag im Irak oder Jemen.
Seit dem 7. Oktober und seinen Folgen ist auch das Verhältnis zwischen Juden und Muslimen in Deutschland oftmals zerrüttet. Was braucht es nun, damit es wieder besser werden kann?
Broder: Das sogenannte Verhältnis zwischen Juden und Muslimen in Deutschland war oder ist vor allem ein Verhältnis zwischen den jüdischen und den muslimischen Funktionären, die sich gegenseitig versichern, wie sehr sie einander mögen. An der Basis sieht es anders aus. Synagogen müssen massiv geschützt werden, Moscheen nicht, abgesehen von einer liberalen Moschee in Berlin, die Seyran Ates gegründet hat. Und die wird nicht von Juden bedroht.
Abdel-Samad: Da helfen keine verlogenen Dialogveranstaltungen. Auch die Ringparabel von Lessing hilft uns da nicht weiter. Wir müssen ehrlich miteinander reden: über den Nahen Osten, über Antisemitismus und über die Rolle der Religion in einer säkularen Gesellschaft. Die Traumata der anderen müssen gesehen und ernst genommen werden. Oft habe ich von Muslimen verlangt, sich mit der jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen, um das Verhalten Israels zu verstehen. Und wenn ich dann hier spreche, jetzt, zu diesem Zeitpunkt, dann muss ich auch die andere Seite ansprechen, nicht nur die deutsche Öffentlichkeit, sondern auch meine jüdischen Freunde: Schließt die Augen nicht vor dem Leid der Palästinenser! Die Menschlichkeit ist unteilbar! Henryk ist da eigentlich ganz moderat. Aber es gibt auch andere. Da gibt es gerade schlimme Reaktionen.
Welche?
Abdel-Samad: Ich habe viele jüdische Leser, die mich bislang wegen meiner Kritik am Islam und am muslimischen Judenhass schätzten. Viele von ihnen, die ich früher für vernünftig hielt, für bedächtig, sogar für intellektuell, halten mich plötzlich für einen Antisemiten. Quasi über Nacht. Sie schreiben Briefe an Veranstalter und drängen sie, mich auszuladen, manchmal mit Erfolg. Neulich hat der Landrat von Altenkirchen eine Lesung von mir in der Stadt abgesagt. Die Jüdische Gemeinde Düsseldorf, die mir vor zehn Jahren aufgrund meines Engagements gegen Rassismus und Antisemitismus die Josef-Neuberger-Medaille verliehen hat, distanzierte sich nun aufgrund meiner harschen Israelkritik von mir und der Preisverleihung. Ich bin ausschließlich meinem Gewissen und der Wahrheit verpflichtet. Ich rede niemandem nach dem Mund. Ich habe meine Überzeugungen. Deshalb muss ich das wohl aushalten.
Broder: Der Vorwurf des Genozids ist so ziemlich das Schlimmste, was man einem Volk, einer Nation vorwerfen kann. Israel muss sich natürlich gegen den Hamas-Terror wehren. Das kann vielleicht manche Reaktionen der Israelis erklären. Zudem: Es gibt keinen Friedensplan der Hamas oder der PLO. Ich lese ab und zu die Übersetzungen der PLO-Pamphlete. Da sind die Juden immer noch die Affen und Schweine, und da muss man sie immer noch jagen und vernichten. Der Unterschied zwischen PLO und Hamas ist marginal. Zumindest in der Propaganda, wie sie sich selbst darstellen. Gaza hatte rund 20 Jahre lang die Chance gehabt, ein Staat zu werden. Alles wurde in Terror gegen die Juden investiert. Alles. Wie also Frieden schließen mit solchen »Partnern«?
Abdel-Samad: Und doch: Genau jetzt ist der Punkt, dass man auf Frieden setzt und genau diesen Menschen die Chance auf Frieden gibt. Israel muss jetzt mit einem Plan für einen unabhängigen Palästinenserstaat kommen!
Broder: Wie viele Pläne es schon gegeben hat!
Abdel-Samad: Ich weiß, ich weiß. Es gab viele verpasste Chancen, von beiden Seiten. Die größte Chance war damals, als Rabin dieses Angebot gemacht hatte. Und die Palästinenser waren bereit. Und du weißt ja, was danach kam. Rabin wurde ermordet, und keine andere israelische Regierung hat sich erneut getraut.
Keine?
Broder: Es war nicht ganz so, aber das ist jetzt egal. Die arabischen Staaten haben sich auch aus jeder Verantwortung herausgezogen. Die palästinensische Führung verrät seit Jahrzehnten ihr Volk. Es gibt keine intakte palästinensische Zivilgesellschaft. Es gibt keine Freiheit des Individuums. Du weißt das noch besser als ich.
Abdel-Samad: Wie konnte die sich denn unter diesen Umständen im Gazastreifen, unter der brutalen Herrschaft der Hamas und in der Westbank unter israelischer Besatzung entwickeln? Das Ende der Besatzung ist der richtige Anfang. Und zwar nicht nur in Gaza, sondern auch in der Westbank. Wer Frieden will, muss damit beginnen, das den Palästinensern über Jahrzehnte angetane Unrecht rückgängig zu machen. Erst dann kann man von ihnen verlangen, eigenverantwortlich für eine bessere Zukunft zu sorgen!
Broder: Da konnte sich gar nichts entwickeln. Vollkommen richtig. Aber wenn du von der brutalen Herrschaft in Gaza sprichst, die von der EU, von den Vereinten Nationen, von Schweden, von Norwegen, von Deutschland mit Milliardenbeträgen unterstützt wurde: Von dem Geld hätte man jeden Palästinenser rehabilitieren können. Jedem ein Haus und ein Auto geben und ein wunderbares, riesiges Fernsehgerät von Samsung! Da ist Geld versunken in Massen – unglaublich! Nicht der eigene Staat der Palästinenser, zu dem sie derzeit nicht imstande sind, müsste die Priorität sein, sondern das Ende der Besatzung in Gaza. Und das kann nur eintreten, wenn arabische Staaten die Verantwortung übernehmen: politisch, wirtschaftlich und militärisch. Ägypten muss die Grenze nach Ägypten aufmachen und Gaza übernehmen. Eine Rückkehr zum Status quo ante wie vor dem 7. Oktober kann es nicht geben. Die Israelis mögen ein wenig meschugge sein, aber nicht so, dass sie einen Fehler zweimal machen.
Das Interview führte Philipp Peyman Engel.