Natalia Jarkovskaia

»In Russland ist man ehrlicher«

von Annette Wollenhaupt

Es ist Sonntag. In Mark Lifchits’ kleinem Lebensmittelladen im Frankfurter Westen ist wenig los. Viel weniger, als es sich der 57-Jährige im Sommer zur Eröffnung erhofft hatte. Bunte Babkas reihen sich in einer kleinen Vitrine, in Regalen stehen russische Konserven, russisches Bier, russisches Gebäck. In einer Tiefkühltruhe liegen Sahneeis und Tiefkühlteigtaschen, gefüllt mit Pilzen, Kohl oder Fleisch.
Die Ladentür geht auf. Es ist Natalia Jarkovskaia im dicken Wintermantel, seit 23 Jahren Lifchits’ Frau. »Meine Natalie«, ruft der Händler und stürmt auf die Frau mit den rosigen Wangen zu. Fast reißt er dabei den Café-Stehtisch um. »Wir machen noch den ganzen Laden kaputt!«, scherzt Natalia und richtet die Augen ironisch gen Ladendecke. Natalia kommt ihren Mann abholen, man möchte gemeinsam mit Freunden grillen, auf einem Waldgrillplatz. Und das bei nicht einmal fünf Grad. Doch als es anfängt zu regnen, beschließt Natalia: »Wir machen das doch besser zu Hause!«
Beide schnappen sich noch schnell ein paar Leckereien aus dem Laden: eine Flasche Kwas mit dem Kreml auf dem Etikett und dem Werbeslogan »Ein Schluck Kindheit«, eine Flasche Wodka, nicht den teuersten, den will man ja verkaufen, Schinkenspeck und russische Wurst. Zu Hause an- gekommen, verzieht sich Natalias Mann, bepackt mit Schweinefleisch (ja, mit Schweinefleisch), auf ein kleines Wiesenstück nahe der Wohnung.
Natalia bleibt im Warmen, zieht ihren Wintermantel aus, deckt den Tisch. Seit fünf Jahren wohnt die 48-Jährige mit ihrem Mann und Sohn Dimitri in Frankfurt am Main. An den Wänden im Wohnzimmer hängen Gemälde. Erinnerungen an die einstige Heimat. »Unser Nachbar hat die Bilder gemalt.« Über dem Sofa ein kleiner hölzerner Kutschwagen als Wanduhr. Natalia hat sie im Sperrmüll entdeckt und mitgenommen, damals in Erfurt, ihrer zweiten Station in Deutschland. Zehn Jahre ist das her. Von St. Petersburg waren sie zuerst nach Aschara gekommen, einem Dorf in Thüringen. Dimitri war damals zwölf. Natalia schätzt, dass in dem Dorf um die 700 Menschen lebten, im Auffanglager hatte man rund 1.000 Zuwanderer untergebracht. Es war eine schlimme Zeit für Natalia. Die Dorfbevölkerung mochte die Fremden nicht. »Man bewarf uns sogar mit Steinen. Dimitri weinte viel.«
Mark Lifchits kam erst 14 Monate später nach. »Seine Mutter war dagegen«, sagt Natalia. »Bei uns gibt es ein Gesetz: Man muss die Erlaubnis der Eltern haben!« Heute denkt sie, dass seine Mutter irgendwie auch recht hatte. »In Russland geht es wirtschaftlich nach oben, in Deutschland nach unten.« Trotzdem bereut sie es nicht, nach Deutschland gegangen zu sein. »In Russland gibt es viele junge Nazis, und die Regierung tut nichts dagegen.« Natalia erzählt, dass sie in Petersburg stets Angst gehabt hätten um ihren Sohn. Niemals war er allein unterwegs. Immer haben sie ihn von der Schule und von Freunden abgeholt. Vor allem der Vater fürchtete, Dimitris große gekrümmte Nase würde ihn als Juden verraten. »Ich schätze an Deutschland, dass es hier Gesetze gibt, an die man sich hält!«, sagt Natalia und berichtet von einer Bahnfahrt nach Gera. »Es waren auch Neonazis im Wagen, aber die Polizei war ganz wunderbar und hat uns abgeschirmt.«
Während Natalia erzählt, flirtet Wellensittich »Roma« im Hintergrund mit seiner künstlichen Frau, einem Plastikweibchen. Vor zehn Jahren, als sie das Land verließen, seien ihre Freunde neidisch gewesen, sagt Natalia. »Sie dachten, in Europa lebt man ein besseres Leben!« Doch die Wirklichkeit sehe anders aus. »Früher in Russland hatten wir keine Angst, unsere Arbeit zu verlieren, und wir waren immer mit den Kollegen befreundet. Hier in Deutschland wird man, wenn man Pech hat, gemobbt!«
Natalia Jarkovskaia spricht aus eigener Erfahrung. Vier Jahre lang arbeitete die Außen- und Großhandelskauffrau im Service-Center einer renommierten Bekleidungshandelskette. Ihr Chef habe sie systematisch gepiesackt, sagt sie. Schließlich hörte sie auf und wechselte in die Buchhaltung eines großen Möbelmarkts. Bis dieser eines Tages zahlreichen Mitarbeitern kündigte, darunter auch ihr.
Einen neuen Job hat Natalia trotz aller Bemühungen noch nicht finden können. Einmal fragte sie ihren Arbeitsberater nach einer Ausbildung zur Pflegerin. Doch der winkte ab, sie sei zu alt dafür. »Ich würde sogar erst einmal umsonst arbeiten, nur um Erfahrungen zu sammeln«, sagt sie – und versteht die Welt mit ihren seltsamen Gesetzen und bürokratischen Hindernissen nicht mehr.
Das Leben bestreitet die Familie mit dem kleinen russischen Laden. Vorher arbeitete Natalias Mann, von Hause aus Wirtschaftsingenieur, als Sachbearbeiter in einer Autovermietung, später beim Sicherheitsdienst der Frankfurter jüdischen Gemeinde und in der Küche des jüdischen Altenzentrums.
Trotz mancher Widrigkeiten lebt Natalia Jarkovskaia gern in Deutschland. Allerdings vermisst sie hier oft die guten Seiten der russischen Seele. Zum Beispiel das Unver- stellte in den menschlichen Begegnungen. »In Russland ist man ehrlicher. Wenn man jemanden nicht mag, dann zeigt man es.«
Manches aus der alten Heimat haben sich die beiden nach Frankfurt hinübergerettet. Wenn Natalia der Familie gediegen auftischt, dann holt sie das gute Lomonosov-Porzellan hervor. Und manchmal spielt Mark Lifchits auf seinem Keyboard und singt die alten russischen Lieder. Oder die beiden schauen über Kabel russisches Fernsehen.
Das Fleisch ist fertig. Natalias Mann bringt die Grillspieße, zu beeindruckenden Bergen gehäuft, in die Küche. Korken knallen und halbtrockener russischer Sekt perlt in schlanken Gläsern. »Nasdrowje« prosten sie sich zu. Der Schwiegervater habe noch koscher geschlachtet, sagt Natalia. Bestimmt drücke er vom Himmel aus ein Auge zu, dass es heute Schwein gibt bei ihnen. Mark Lifchits sagt in gebrochenem Deutsch: »Ich schätze, dass 90 Prozent der russischen Juden in Deutschland Schweinefleisch essen«. Natalia nickt. Es schmecke eben, und schließlich sei es billiger. »Die meisten von uns sind aufs Sozialamt angewiesen. Koscher zu essen, ist teuer.
Jüdische Traditionen zu pflegen, gehörte schon in Russland nicht zum Alltag der Familie. Und da ist auch die Angst. Vor allem Natalias Mann fühlt sich unsicher in Deutschland als Jude. «Nicht alle lieben uns», sagt er und zuckt dabei ein wenig ratlos mit den Schultern. «Ich sage keinem Kunden, dass ich Jude bin.» Schließlich kauften bei ihm auch viele Muslime ein, er möchte sie als Kunden nicht verlieren.
Am Türpfosten ihrer Wohnung hängt eine Mesusa. Natalia sagt: «Der jüdische Glaube kam zu uns, als wir erwachsen waren». Mit ihrem frommen Großvater wuchs sie nicht auf, und die «Mutti», sie habe keinen Glauben gehabt. Der Vater? «War Fatalist.» Natalia selbst definiert sich als gläubigen Menschen, «aber mit jüdischen Sitten hat das leider nichts zu tun». «Allerdings», sagt sie, «versuchen wir an Pessach, kein Brot zu essen.»
Natalias Sohn Dimitri studiert in Frankfurt Betriebswirtschaftslehre, hat deutsche Freunde, ist das, was man integriert nennt. Und doch hat er, findet Natalia, «eine gewisse Besonderheit», die er auch ruhig behalten solle. Man dürfe ihn nicht so integrieren, dass er sein Gesicht verliere, sagt die Mutter. «Unser Sohn ist unsere Zukunft. Wenn wir geblieben wären, hätten wir vielleicht genug Geld, aber wir könnten nicht schlafen aus Sorge um Dimitri!»
Natalia Jarkovskaia ist eine Frau mit eigener Meinung. Sie hat keine Angst anzuecken, auch was die Integration der Zuwanderer betrifft. Die glücke nämlich bei weitem nicht immer, sagt sie. «Manche alteingesessenen Gemeindemitglieder haben ein Unternehmen. Eigentlich wäre es eine Pflicht für sie, den jüdischen Zuwanderern eine berufliche Chance zu geben!»

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