Nürnberger Ärzteprozess

Gewissenlose Medizin

von Ernst Klee

Am 3. Januar 1944 fragte Sigmund Rascher, Stabsarzt der Luftwaffe und SS-Hauptsturmführer, in einem Brief den »lieben Kameraden« Wolfgang Romberg, was »eigentlich aus unseren schönen Präparaten« geworden sei. »Es wäre wirklich schade, wenn diese guten und schönen Arbeiten, die wir geleistet haben, verschüttet würden. (...) Ich arbeite immer noch im KL Dachau, allerdings wesentlich weniger blutrünstig als früher. Darf ich Ihnen und Ihrer lieben Frau zum Jahr 1944 von Herzen alles Gute wünschen.«
Nach der Kapitulation des NS-Regimes erfuhr die schockierte Weltöffentlichkeit von diesen »schönen Arbeiten«, allesamt ausgeführt unter dem Deckmantel der Wissenschaft. Am 9. Dezember 1946 begann der Nürnberger Ärzteprozess. Vor dem Ersten Amerikanischen Militärgerichtshof standen drei hohe SS-Funktionäre und 20 Mediziner. Sie mussten sich für Tötungen und Menschenversuche in Konzentrationslagern, Krankenhäusern und Heilanstalten verantworten. Dutzende Zeugen wurden gehört, Hunderte Beweisstücke präsentiert. Keiner der Angeklagten äußerte ein Wort des Bedauerns.
Medizinversuche gab es in allen Konzentrationslagern. Laut der Anklage wurden KZ-Häftlinge wie Laborratten bei Experimenten »verbraucht«. Einer der grausi- gen Höhepunkte: Der Chirurg Fritz Fischer operierte einer im KZ wahnsinnig gewordenen Frau das gesamte Schulterblatt heraus, das dann einem Privatpatienten im nahe gelegenen SS-Lazarett Hohenlychen eingesetzt wurde. Die Frau, die als medizinisches Ersatzteillager diente, wurde ermordet.
Keiner der KZ-Versuche erbrachte einen medizinischen Nutzen. Nur im Lager Dachau wurden für die Kriegsforschung verwertbare Daten gewonnen: 1942 benutzten Luftwaffenärzte Häftlinge für Höhenversuche. Die Gefangenen wurden in einer Unterdruckkammer Verhältnissen wie in Höhen von bis zu 21 Kilometern ausgesetzt, wo man sie in simulierten Versuchen abstürzen ließ. Die Folgen: Krämpfe, Lähmungen, Blindheit, Wahnsinn, Tod. In einer zweiten Versuchsreihe (»Abkühlversuche am Menschen«) wollten Luftwaffenärzte die Todesursache abgestürzter und im Meer treibender Piloten herausfinden. Die Versuchsobjekte wurden in Bottiche mit eiskaltem Wasser gezwungen, ihre Körpertemperaturen mit Thermosonden im Magen oder im Mastdarm gemessen. Ein Schlauchstethoskop über der Herzspitze maß die Herzfrequenz. Sank die Körpertemperatur um ein Grad, wurde jeweils Blut und mittels eines Katheters Urin abgenommen, zudem punktierte man Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit am Kopf und am Rückgrat. Die Häftlinge starben nach sechs bis acht Stunden, wenn ihre Temperatur auf 28 bis 25 Grad gefallen war – Raschers »schöne Präparate«. Er selbst, ein lästiger Zeuge, wurde auf Befehl des Reichsführers-SS Heinrich Himmler am 26. April 1945 in Dachau erschossen. Sein Tod ermöglichte allen anderen beteiligten Medizinern, jede Schuld – erfolgreich – auf ihn abzuwälzen.
Das Nürnberger Militärgericht fällte am 20. August 1947 acht Todesurteile, die auch vollstreckt wurden. Unter den Verurteilten war Himmlers Leibarzt, der SS-Brigadeführer Professor Karl Gebhardt, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Er hatte die Versuche im KZ Sachsenhausen geleitet. Zum Tode verurteilt wurde auch Professor Karl Brandt. Der ranghöchste NS-Mediziner, SS-Obergruppenführer und Hitlers chrirugischer Begleitarzt hatte den NS-Krankenmord (»Euthanasie«), dem 250.000 Menschen zum Opfer fielen, geleitet und als Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen die KZ-Versuche verantwortet.
Sieben Mediziner, unter ihnen Fritz Fischer, wurden in Nürnberg zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Strafen endeten in der Regel bereits 1954. Auch Fischer wurde in jenem Jahr entlassen und danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Pharmaproduzenten Böhringer eingestellt. Auffällig ist die Behandlung der an den Dachauer Versuchen beteiligten Ärzte: Der Wiener Internist Wilhelm Beiglböck, der Versuche zur Trinkbarkeit von Meerwasser an »Zigeunern« gemacht hatte, wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt. Er kam Ende 1951 frei und arbeitete danach als leitender Arzt am Kreiskrankenhaus Buxtehude. Generaloberstabsarzt Oskar Schröder, Inspekteur des Luftwaffensanitätswesens, zu lebenslanger Haft verurteilt, wurde 1954 entlassen und bei der US-Airforce eingestellt. Der Luftwaffenmediziner Hermann Becker-Freyseng, zu 20 Jahren Haft verurteilt, kam bereits 1952 in Freiheit und wurde ebenfalls in die USA gebracht.
Freisprüche gab es für die an den Dachauer Versuchen beteiligten Luftwaffenmediziner Georg August Weltz (1952 Professor für Röntgenphysiologie in München), Hans Wolfgang Romberg (Arztpraxis in Düsseldorf), Konrad Schäfer (bis 1951 im Dienst der US-Luftwaffe) und Siegfried Ruff (Leiter des Instituts für Flugmedizin der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt in Bad Godesberg und Berater beim Aufbau der Luftwaffe). Der oberste Luftwaffenmediziner, Professor Hubertus Strughold, war in Nürnberg gar nicht erst angeklagt, sondern samt Untersuchungsergebnissen in die USA ausgeflogen worden. Unter seiner Leitung sollen mindestens 34 Mediziner zur Luftwaffenforschung in die USA geholt worden sein. Strughold stieg dort zum »Vater der Weltraummedizin« auf.
Die Ausgangsthese der Ankläger, Medizinverbrechen seien Taten der SS gewesen, hatte sich als Irrtum erwiesen. In Wahrheit wetteiferten Wehrmacht, Pharmaindustrie und Universitätsprofessoren darum, »Menschenmaterial« zu bekommen. Das NS-Regime ermöglichte Medizinern, ohne ethische Hemmungen Menschen- statt Tierversuche zu machen. Dies wurde psychologisch erleichtert, da die Experimente an Menschen stattfanden, die aus der Wertegemeinschaft ausgeschlossen waren: Behinderte, Geisteskranke, Polen, Russen, Juden.
Der Nürnberger Prozess dokumentierte das Leid der Opfer wie die Gewissenlosigkeit der Täter. Im Zeichen des beginnenden Ost-West-Konflikts (Kalter Krieg) interessierten jedoch sehr schnell nicht mehr die Verbrechen der Täter, sondern ihre Forschungsergebnisse, sofern sie verwertbar waren.

Der Autor ist Verfasser mehrerer Bücher zu den Medizinverbrechen der Nazizeit. 2007 erschien von ihm »Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945«.

Nach Absage in Belgien

Dirigent Shani in Berlin gefeiert

Nach der Ausladung von einem Festival werden die Münchner Philharmoniker und ihr künftiger Chefdirigent Lahav Shani in Berlin gefeiert. Bundespräsident Steinmeier hat für den Fall klare Worte

von Julia Kilian  15.09.2025

New York City

UN-Sicherheitsrat verurteilt Israels Angriff auf Katar einhellig

Sogar die USA schlossen sich der Erklärung an

 12.09.2025

Eurovision Song Contest

Gegen Israel: Irland erpresst Eurovision Song Contest-Veranstalter

Nach Slowenien hat auch Irland verkündet, dem Eurovision Song Contest fernzubleiben, sollte Israel teilnehmen. Damit verstoßen sie gegen Grundregeln des international beliebten TV-Wettbewerbs

 11.09.2025

Krieg

Zwei Raketen aus Gaza auf Israel abgeschossen

Am Sonntagmorgen wurde Israel aus dem Gazastreifen mit Raketen beschossen. Eine Bekenner-Erklärung gibt es auch

 07.09.2025

Berlin

Uni-Präsidentin rechnet mit neuen »propalästinensischen« Aktionen

Die Präsidentin der Humboldt-Universität, Julia von Blumenthal, rechnet zum Wintersemester erneut mit »propalästinensischen« Aktionen. Dabei seien unter den Beteiligten kaum Studierende

 07.09.2025

Diplomatie

Netanjahu geht auf Belgiens Premier los

Für seine Entscheidung, Palästina als Staat anzuerkennen, wird Bart De Wever vom israelischen Ministerpräsident persönlich attackiert

von Michael Thaidigsmann  04.09.2025

Hannover

Angriff auf Gedenkstätte: Staatsanwaltschaft erhebt Anklage

Ein 26-jähriger Rechtsextremist war im Mai in Budapest festgenommen worden

 02.09.2025

Nahost

Deutscher Beauftragter für Menschenrechte reist nach Israel

Lars Castellucci macht sich ein persönliches Bild von der Lage in Israel und den palästinensischen Gebieten. Ein Augenmerk liegt darauf, wo deutsche Hilfe möglich ist - und wo sie behindert wird

 01.09.2025

Rotes Meer

Huthi greifen Öltanker an

Das Schiff gehört einem israelischen Milliardär

 01.09.2025