Kaschubei

Eingeebnete Tradition

von Gabriele Lesser

Ernst Winter war ein Hansdampf in allen Gassen. Ein Frauenheld und jugendlicher Charmeur. Für eine Liebelei war der 18jährige bereit, alles aufs Spiel zu setzen. Geld, Ehre und Leben. Eines Tages dümpelt der Torso des Gymnasiasten im Konitzer Mönchsee – nur 200 Meter von der Synagoge entfernt. »Die Juden!«, ereifern sich die ersten Maulhelden. »Sie brauchen das Blut für ihre Mazzen zum Pessachfest.« Die Gerüchteküche beginnt zu brodeln. Jeder in der westpreußischen Kleinstadt will in der Mordnacht am 8. März 1900 etwas gesehen oder gehört haben. Als Tage später weitere Leichenteile in der Stadt auftauchen, wird klar: Der Körper des Schülers wurde fachgerecht zerlegt. Der Verdacht fällt auf die beiden Schlachter im Ort. Doch beide haben ein Alibi, der christliche war zu Hause, was seine gesamte Familie bezeugt, der jüdische in seiner Stammkneipe, was der Wirt und einige Gäste bestätigen. Die Polizei läßt Verstärkung aus Berlin kommen. Als dann jedoch am 10. Juni 1900 vor Wut schäumende Antisemiten jüdische Gottesdienstbesucher angreifen, die Synagoge demolieren und den Konitzer Juden Steine durch ihre Fenster werfen, greift das preußische Militär ein. Die meisten der rund 500 Juden, die damals in dem 10.000-Seelen-Ort wohnten, verließen die Stadt nach den pogromartigen Ausschreitungen.
Gut hundert Jahre später. Ortsbesichtigung. Zwölf junge Leute aus Polen und Deutschland, die meisten von ihnen Geschichts- und Judaistik-Studenten, stehen mit einem historischen Stadtplan im heute polnischen Chojnice. Die meisten sind zum ersten Mal in der Kaschubei. Auf Einladung des Kaschubischen Instituts der Universität Danzig und der Academia Baltica in Lübeck folgen sie zehn Tage lang den »jüdischen Spuren in der Kaschubei«.
Von Przewoz bei Chmielno aus starten sie jeden Tag mit dem Kleinbus oder auf Rädern nach Danzig, der Hauptstadt der Kaschubei, nach Kartuzy (Karthaus), Koscierzyna (Berent), Czluchow (Schlochau), Sopot (Zoppot), Lebork (Lauenburg) und Puck (Putzig). Auch das ehemalige KZ Stutthof steht auf dem Programm. Überall geben Mitglieder der jüdischen Gemeinde, Zeitzeugen und Lokalhistoriker Auskunft. Jedes Gespäch wird protokolliert, jede Synagoge, jeder Friedhof und jedes geschichtlich bedeutsame Gebäude fotografiert. Auch das tägliche Lesepensum ist enorm. Am Ende des zweiteiligen Workshops soll
eine Dokumentation stehen, eine Art Reiseführer, wie es sie bereits für das ehemalige Galizien oder Teile Ostpreußens gibt.
Auch Christoph Nonn ist zum ersten Mal in Chojnice (Konitz). Doch der hochaufgeschossene Historiker bewegt sich mit traumwandlerischer Sicherheit in der Stadt. Immerhin hat er mehrere Monate über den Polizeiakten gebrütet, um dann die Kriminalstudie »Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich« zu verfassen. »Hier«, sagt Christoph Nonn daher auch mit großer Bestimmtheit, »hier wurde der Torso Winters gefunden.«
Die jungen Leute treten unbehaglich von einem Bein aufs andere. Vor 100 Jahren hätten sie im Mönchsee geplätschert, heute stehen sie auf saftig grünem Rasen. Könnte es sein, daß auch 100 Jahre nach dem Mord noch Leichengeruch in der Luft liegt? Und ist sicher, daß die Rasendecke nicht an einer Stelle nachgibt und man in den Fluten des Mönchsees versinkt?
»Dort drüben an der Kreuzung stand die Synagoge«, sagt Nonn und läuft los. Erleichtert folgen ihm alle. Zwei Stunden später wirkt Chojnice wie Konitz vor 100 Jahren. Das Rathaus steht noch wie einst, das Gynmnasium und auch der Hinterhof, in dem der damals 52jährige Abdecker und Lumpenhändler Wolf Israelski wohnte, Jude, geistig behindert und einer der ersten Verdächtigen im Mordfall Winter. Die Häuser der beiden Beschuldigten lagen in einer schmalen Gasse einander gegenüber – rechts wohnte der christliche Schlachter Gustav Hoffmann, links der jüdische Schächter Adolph Lewy. In der Mordnacht, so erzählte der kaum des Lesens und Schreibens mächtige Bernhard Masloff einem Reporter der antisemitischen Berliner Staatsbürgerzeitung, lag er in der Gasse auf Lauer. Eigentlich wollte er bei Levy einbrechen und dort ein Stück Fleisch stehlen. Stattdessen wurde er Zeuge, wie Levy und zwei andere Männer ein schweres Paket zum Möchsee schleppten – wahrscheinlich die Leiche Winters. Masloff wurde noch öfters verhört und tischte der Polizei immer neue und phantastischere Geschichten auf. Obwohl die Polizei noch wochenlang »Zeugen« verhört, wird der Fall nie aufgeklärt.
125 Kilometer nördlich von Konitz: Der Schriftsteller und Journalist Mieczyslaw Abramowicz zeigt den Studenten erst die kleine Synagoge in Langenfuhr, in der noch immer eine Musikschule untergebracht ist. Wer sich durch eine Armada von Mülltonnen kämpft, gelangt zu einem Nebeneingang. Hier kann die jüdische Gemeinde von Danzig einen kleinen Raum als Betsaal nutzen, für gesellschaftliche Treffen oder auch den Kiddusch. Doch Abramowitsch ist zuversichtlich: »Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis wir die ganze Synagoge wieder nutzen können. Zurückerhalten haben wir sie ja bereits, doch die Musikschule hat noch kein neues Domizil gefunden.« Schlechter bestellt sei es um die Friedhöfe. »Wir sind eine winzige Gemeinde. Niemand von uns hat Zeit und Geld, die beiden letzten jüdischen Friedhöfe in Danzig zu pflegen. So verfallen sie von Jahr zu Jahr mehr.« Er steigt die Stufen der einstigen Hauptallee des Parkfriedhofes hinauf, bleibt stehen, dreht sich um und schweigt lange. »Was soll ich hier sagen?«, fragt er die jungen Leute. »Hier liegen die Toten. Niemand weiß mehr, wo genau. Das letzte große Grabmal haben Rowdies vor ein paar Monaten verwüstet. Sie haben auf dem Friedhof eine Fete gefeiert und im letzten jüdischen Grabmal gegrillt oder einfach so Feuer gemacht.« Abramowicz streicht sich über den langen weißen Bart. »Am besten pflegt man geistige Traditionen. Die kann einem niemand nehmen.«
Ortswechsel. An Kartuzy, dem einstigen Karthaus, hat die Forscher-Familie Borzyszwski besonders großes Interesse. Seit im Archiv der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem die Erinnerungen von Else Pintus gefunden wurden, tragen Vater und Töchter die Puzzlesteine zum Leben dieser kaschubischen Jüdin zusammen. Else Pintus stammte ursprünglich aus Chmielno, wohnte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zusammen mit ihrem Bruder Heinz in Karthaus, flüchtete zunächst nach Danzig und von dort zurück nach Karthaus und Chmielno. Versteckt von ihren ehemaligen Nachbarn, der kaschubischen Familie Stenzel, überlebte sie die letzten zweieinhalb Kriegsjahre. Als ihr Bruder Heinz aus dem KZ Stutthof nicht zurückkehrte, schenkte Else Pintus ihr idyllisch am Reckow-See gelegenes Haus den Stenzels zum Dank für ihre Rettung und zog nach Berlin. Dort hatte ihr älterer Bruder Paul in einem Versteck den Holocaust überstanden. Else Pintus kehrte nie mehr nach Polen zurück. Sie starb 1980 in Berlin.
Auch die Spurensuche in Karthaus endet aber meist mit einem enttäuschenden »Juz nie ma – Das gibt es nicht mehr.« Der jüdische Friedhof an der heutigen Sedzicki-Straße, auf dem die Eltern von Else Pintus beerdigt wurden, existiert nicht mehr. An seiner Stelle wächst heute Unkraut. Grabsteine sind keine mehr zu sehen. »Aber die Toten liegen sicher noch so, wie sie einst beerdigt wurden«, glaubt Regionalforscher Jerzy Nacel. Gegraben hätte dort nie jemand. Der Friedhof sei in der Nachkriegszeit von den polnischen Kommunisten eingeebnet worden, »so wie alle ›fremden‹ Friedhöfe in der Gegend«. Immerhin will die Gesellschaft der Freunde von Kartuzy demnächst einen Gedenkstein aufstellen. Möglicherweise wird das Brachland auch in einen Park verwandelt. Auch von der Synagoge, die die Familie Pintus in Karthaus besuchte, ist nichts mehr zu sehen. Hier steht heute eine polnische Bank. Nacel zieht aus einer schmalen Aktentasche einen kleinen silbernen Davidstern mit Glöckchen. »Bereschit – Im Anfang« steht in hebräischen Buchstaben auf der einen Seite, die ersten Worte der Bibel. Und darunter »S-e Karthaus«. Ein Kürzel für »Synagoge Karthaus«? Nacel schüttelt den Davidstern leicht im Wind. In das leise Bimmeln hinein sagt er: »Bis heute weiß ich nicht, wozu dieser Davidstern diente. Ich habe ihn auf dem Flohmarkt gekauft. Vielleicht schmückte er die Tora-Rolle? Vielleicht hing er auch an einem prächtigen Leuchter? Ich weiß es einfach nicht.«
Die jungen Leute machen Notizen, fotografieren den Davidstern. Zurück in den jeweiligen Studienorten, forschen sie weiter. Wozu könnte der Stern gedient haben? Wieder andere wollen mehr wissen über die Danziger Juden. Die nächsten fragen sich, wieso man kaum etwas über die Landjuden der Kaschubei weiß. In einem Jahr treffen sich alle in Danzig oder Zoppot wieder. Dann wird die Dokumentation entstehen: »Jüdische Spuren in der Kaschubei« – mit Adressen, Fotos und einer ungelösten Kriminalgeschichte aus Konitz.

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