Jamlitz

Aufgewühlt

von André Glasmacher

Die verfilzte Grassteppe ist verschwunden. Hellbraune, frisch planierte Erde mit Baggerspuren erstreckt sich über das 5.000 Quadratmeter große Grundstück. An der nördlichen Stirnseite steht noch immer das verwahrloste Einfamilienhaus, daneben ein blauer Passat mit einem ernst blickenden Wachmann hinter dem Steuer. Jamlitz im Mai 2009. Ein 615-Seelendorf am Rande des Spreewaldes, umgeben von Feldern und rauschenden Fichtenwäldern. Einst befand sich hier ein Außenlager des KZ Sachsenhausen, heute zeugen akkurat gestrichene Gartenzäune mit »Warnung vor dem Hund«-Schildern und Mittelklassewagen in der Auffahrt von bürgerlicher Normalität.
Wäre da nicht das Massengrab. Das brandenburgische Innenministerium und der Zentralrat der Juden vermuten, dass im Dorf 765 jüdische KZ-Häftlinge verscharrt wurden, die die SS im Februar 1945 ermordete, als die Rote Armee auf das Lager anrückte. In dem Lager saßen dann wenig später unter sowjetischer Verwaltung echte Naziverbrecher und vermeintliche »Spione«. 1947 wurde das Lager aufgelöst. Erst nach der Wende begann eine systematische Suche nach den jüdischen Opfern.
Das Problem war, dass die Behörden auf der Hauptverdachtsfläche lange nicht graben durften. Der Eigentümer des Grundstücks verweigerte beharrlich die Erlaubnis (vgl. Jüdische Allgemeine vom 21. Februar 2008). Nach zwei Prozessen akzeptierte er im Herbst 2008 den Verkauf des Grundstücks. Vor vier Wochen begann ein Team des brandenburgischen Denkmalamts mit den Grabungen, die jetzt ohne Erfolg eingestellt wurden. Zwar fand man Reste von Geschirr, doch keine Leichen.
Die »Sache mit dem Massengrab« ist inzwischen ein Politikum, der Name Jamlitz weltbekannt. Bei Grabungsbeginn flog der Innenminister mit dem Hubschrauber ein, zahlreiche TV-Teams und Journalisten interviewten sich durch das Dorf. Die Bewohner fühlten sich bald als unverbesserliche Nazis dargestellt oder falsch zitiert.
»Ein Skandal«, sei das, sagt ein älterer Herr unweit des Grundstücks. »Wir wollen hier unsere Ruhe.« Dann schiebt er nach, er wundere sich über die hohe Abfindung für den Eigentümer, der angeblich 100.000 Euro erhalten haben soll – mehr als das Doppelte des Verkehrswerts. »Für so was haben die Geld!«, erregt er sich und ist schon weg.
Das sei aber eine Einzelmeinung, betont Christa Wiernowolski entschieden. Die 56-Jährige wohnt direkt neben der planierten Grassteppe. »Die meisten Jamlitzer können verstehen, dass die Angehörigen der Ermordeten Gewissheit haben möchten, wo ihre Lieben liegen«, sagt die Lehrerin. »Die unterstützen eine Aufklärung«, versichert sie.
Von einer Aufklärung kann aber noch immer nicht die Rede sein. Nachdem ein Gutachten von Günter Morsch, Leiter der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten in Oranienburg, »Flurstück 411« als maßgebliche Verdachtsfläche ausgewiesen hatte und alle sonstigen Flächen mit Probebohrungen oder Boden-Radargeräten bereits abgesucht wurden, herrschte Ratlosigkeit. Peter Fischer vom Zentralrat der Juden forderte schon kurz nach Bekanntgabe des negativen Grabungsfundes eine Fortsetzung der Suche. Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm sicherte dies zu: Es sei eine »zutiefst menschliche Verpflichtung, den mutmaßlichen Tatort insgesamt zu überprüfen, um die Grabstelle der Opfer eines schrecklichen Verbrechens der SS möglicherweise doch noch zu finden«.
Denn sicher ist, dass das Massengrab existiert. Zeugen berichten, dass bei der Räumung des Lagers 1.342 Häftlinge ermordet wurden. 1971 fand man in einer nicht weit entfernten Kiesgrube 589 Tote. Einschusslöcher an den Hinterköpfen, Reste gestreifter Kleidung sowie ein Anhänger mit Davidstern und eingraviertem »Schma Israel« deuten darauf hin, dass es Opfer des SS-Massakers sind. Sie wurden eingeäschert und in einer drei Kilometer entfernten Gedenkstätte als »aufrechte Antifaschisten« – also Kommunisten – beigesetzt und von der DDR instrumentalisiert.
Andreas Weigelt war damals als achtjähriger Jungpionier bei der Zeremonie dabei, war beeindruckt von der feierlichen Atmosphäre und den Worten vom »ewigen Gedenken«. Er steht jetzt am südlichen Ende des Flurstücks. Dort, wo sich einst der Kontrollgang der Wächter befand und wo heute 13 Plexiglasstelen die Geschichte des KZ aufarbeiten. Weigelt zeigt auf das Nachbargrundstück. Unterholz, Bäume und verfaulendes Holz bedecken dicht den Boden. »Sehen Sie den länglichen Hügel unter dem Gras? Das sind die Fundamente einer Lagerbaracke. In diesem Bereich könnten die restlichen Opfer wirklich liegen.«
Der 46-jährige promovierte Historiker ist in der benachbarten Kleinstadt Lieberose geboren. Wohl kaum einer kennt hier die Geschichte des Lagers genauer als er. Weigelt schrieb seine Doktorarbeit über das Thema. Er betreut jetzt das örtliche Forschungsarchiv zum Lager, das in einem Gebäude der evangelischen Kirche untergebracht ist. In flüssiger und vor allem fak- tenreicher Historikerdiktion erklärt er, dass die Morde im Bereich der sogenannten Schonungsblocks stattfanden. Und die standen teilweise auf der jetzt durchsuchten Fläche – aber auch auf dem Nachbargrundstück. Doch das wurde bereits 1999 durchsucht. »Allerdings nicht sehr genau«, weiß Weigelt. Deshalb ärgert er sich, dass bei den jahrelangen Prozessen um die Grabungserlaubnis das Nachbargrundstück ausgeklammert wurde. »Zu befürchten ist, dass jetzt wieder jahrelang prozessiert wird.« Die Eigentümerin des Grundstücks wurde nämlich vor zwei Jahren von ihrem Sohn ermordet. Jetzt streitet eine Erbengemeinschaft, wer Haus und Grundstück erhalten soll, ein Behördenzugriff dürfte schwierig werden. »Eine endlose Geschichte«, sagt Weigelt.
Ein Auto mit französischem Kennzeichen fährt vor, zwei jüngere Frauen und eine ältere Dame mit Sonnenbrille und einem kleinem Goldkreuz um den Hals stei- gen aus. Bepackt mit einem Stapel Papier gehen sie zögerlich auf Weigelt zu. Die ältere Dame, begleitet von ihren Töchtern, ist auf der Suche nach Spuren ihres Vaters, der als Zwangsarbeiter in Jamlitz war, erzählt sie. Alles was man wisse, sei, dass er bei einem Gefecht zwischen Wehrmacht und Roter Armee, rund 40 Kilometer von Jamlitz entfernt, leicht verwundet worden sei. »Ich möchte Gewissheit, was aus ihm geworden ist«, sagt sie. Weigelt gibt ihnen den Rat, bei der dortigen Kirchengemeinde nachzufragen. Viel Hoffnung kann er ihnen nicht machen. Auch was das Massengrab betrifft, schwindet so langsam die Zuversicht. »Sollten auch auf dem Nachbargrundstück keine Opfer gefunden werden, ist die Suche erst einmal gescheitert.«

Sydney

Jewish organizations decry the »scourge« of antisemitism

This time the focus is on Australia. It is hosting a conference of the international Jewish initiative »J7.« The group is presenting figures on Jew-hatred on the continent – and speaks of historic highs.

von Leticia Witte  03.12.2025

Kino

Blick auf die Denkerin

50 Jahre nach Hannah Arendts Tod beleuchtet eine Doku das Leben der Philosophin

von Jens Balkenborg  02.12.2025

Thüringen

Verfassungsschutz-Chef schätzt AfD-Jugend als rechtsextrem ein

Die Mitglieder der »Generation Deutschland« würden in ihren ersten Auftritten »weder eine Mäßigung noch eine Distanzierung oder gar Wandlung« zeigen, so Kramer

 02.12.2025

Tel Aviv-Jaffa

Shimon-Peres-Preis wird erstmals in Israel verliehen

60 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind der Anlass: Zum ersten Mal wird der Shimon-Peres-Preis für gemeinsame demokratische Vorhaben in Israel feierlich übergeben

von Alexander Riedel  01.12.2025

TV-Kritik

Viel Krawall und wenig Erkenntnis: Jan Fleischhauer moderiert im ZDF den Kurzzeitknast der Meinungen

Mit »Keine Talkshow - Eingesperrt mit Jan Fleischhauer« setzt das ZDF auf Clash-TV: ein klaustrophobisches Studio, schnelle Schnitte, Big-Brother-Momente und kontroverse Gäste - viel Krawall, wenig Erkenntnis

von Steffen Grimberg  24.11.2025

Teilnehmer des Mitzvah Day 2016 in Berlin

Tikkun Olam

»Ein Licht für die Welt«

Der Mitzvah Day 2025 brachte bundesweit Gemeinden, Gruppen und Freiwillige zu mehr als 150 Projekten zusammen

 23.11.2025

Hebraica

»Was für ein Buchschatz!«

Stefan Wimmer über die Münchner Handschrift des Babylonischen Talmuds als UNESCO-Weltkulturerbe

von Ayala Goldmann  23.11.2025

TV-Tipp

Oliver Masucci brilliert in dem Mehrteiler »Herrhausen - Der Herr des Geldes«

Biografischer Mehrteiler über Bankier Alfred Herrhausen

von Jan Lehr  17.11.2025

Amsterdam

Chanukka-Konzert im Concertgebouw kann doch stattfinden

Der israelische Kantor Shai Abramson kann doch am 14. Dezember im Amsterdamer Konzerthaus auftreten - allerdings nur bei zusätzlich anberaumten Konzerten für geladene Gäste

 13.11.2025