Lange Nacht der Museen

Zwischen Kuppel und Lesebühne

Der Musiker Andrej Hermlin führte Besucher durch die Dauerausstellung und erzählte dabei von seiner Familiengeschichte. Foto: Gregor Zielke

So voll habe sie das Museum schon lange nicht mehr erlebt, sagt Stefanie Nathow. Die Mitarbeiterin der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum wirbelt gerade zwischen Besuchern hin und her, die versuchen, ihre Namen ins Hebräische zu übertragen. Die Ergebnisse sollen möglichst fehlerfrei sein, denn sie werden zum Schluss auf eine Baumwolltasche gedruckt; unterschiedlich große Stempelkissen liegen dafür auf einem Tisch bereit.

»Namen ins Hebräische zu transkribieren, ist schwierig«, meint Stefanie Nathow. Sie spreche da aus eigener Erfahrung. »Ich habe erst kürzlich mit meiner Hebräischlehrerin darüber diskutiert, wie mein Vorname richtig übertragen wird. Mit einem Samech oder einem Schin?« Die erste sei die englische Aussprache, die in Israel geläufiger sei, die zweite die deutsche. »In meinem Fall ist Schin aber richtig, denn ich komme nun einmal aus Deutschland.«

ALPHABET Die Besucher haben an diesem Samstagabend noch ganz andere Fragen im Kopf: Was passiert mit den Vokalen, wenn es die im Hebräischen doch so gar nicht gibt? Was hat es mit den 22 Konsonanten auf sich? Und wie alt ist das Hebräische überhaupt? Stefanie Nathow hat auf alles eine Antwort und nimmt sich trotz des Trubels für jeden Zeit.

Während die einen versuchen, der Buchstaben Herr zu werden, stehen die anderen geduldig in einer Warteschlange zur Kuppelbesichtigung an. »Mich erinnert dieser Trubel hier ganz schön an Jerusalem«, meint ein Besucher. »Das war da auch so.« Er sei erstmals in der Neuen Synagoge – und das, obwohl er aus Berlin kommt. Für seine Ehefrau sei es hingegen der zweite Besuch.

»Zu Spitzenzeiten ging die Warteschlange bis zum S-Bahnhof Oranienburger Straße«, sagt Direktorin Anja Siegemund.

»Bitte einmal Platz machen!«, ruft ein Security-Mitarbeiter auf einmal energisch. Zehn, 15 Mann haben ihren Kuppelrundgang beendet und wollen nun weiterziehen, müssen sich dafür aber erst einmal an den Wartenden vorbeischlängeln.

Die ganze Hektik im dritten Obergeschoss bekommt Esther Kontarsky nur geringfügig mit. Tief versunken sitzt sie an einem Schreibtisch im Repräsentantensaal. Vor ihr eine Absperrung und das Hinweisschild »Bitte nicht stören«. Die Besucher halten sich daran, dämpfen ihre Gesprächslautstärke und bleiben neugierig stehen.

MESUSOT Die 50-Jährige ist eine »Soferet«, eine Schreiberin. Bis zwei Uhr nachts werde sie heute Klafim anfertigen, sagt sie, Pergamentstücke mit einem handgeschriebenen Ausschnitt der Tora, die als Mesusot an Haus- und Zimmertüren befestigt werden. Dass sie das auf einer Veranstaltung wie der 39. Langen Nacht der Museen mache, in aller Öffentlichkeit, sei eine Premiere.

»Es ist eigentlich eine sehr introvertierte Tätigkeit«, erklärt Kontarsky. Am liebsten sitze sie dafür zu Hause, in aller Ruhe, wenn keines ihrer fünf Kinder zugegen ist.

Am Samstagabend im Repräsentantensaal hat sie mit der Tinte zu kämpfen. »Die trocknet in diesem Raum zu schnell, das ist wirklich eine Herausforderung«, sagt sie, sogar eine noch größere als all die Schaulustigen an der Absperrung.

Seit 2014 arbeitet Kontarsky als Schreiberin in Berlin. Die zweijährige Ausbildung dazu hat sie in Israel absolviert. »Ich stehe bis heute in engem Kontakt mit meiner Lehrerin. Außerdem bin ich mindestens einmal im Jahr in Israel, um die Materialien zu kaufen. Ich kann sie sonst nirgends erwerben – außer in den USA.«

Mit einem Skalpell schnitzt die Soferet die Federn zurecht.

Was sie für die Klafim benötige, seien Pergament aus koscherem Tier, eine spezielle Tinte, die reliefartig trockne, und Truthahn-Federn, »die sind stabiler als jene von der Gans«. Mit einem Skalpell schnitzt sie sich die Federn zurecht, »sie sind wie ein lebendiges Wesen«.

Mit ihnen zu schreiben, sei eine beeindruckende Erfahrung. Ohnehin habe ihr das Schreiben schon immer gelegen, sagt Esther Kontarsky. »Und das Lesen der Tora, damit beschäftige ich mich seit vielen Jahrzehnten.« Besonders spannend finde sie die Tatsache, dass der einzelne Mensch – ob beim Lesen der Tora oder beim Anfertigen der heiligen Schrift – in den Hintergrund trete.

LESENACHT »Hallo, Frau Kontarsky – wie läuft es bei Ihnen?« Anja Siegemund macht neben der Schreiberin eine kurze Verschnaufpause. Die Direktorin des Centrum Judaicum flitzt während der Langen Nacht von einem Termin zum nächsten. Nachdem Esther Kontarsky ihr ihr Leid von der zu schnell trocknenden Tinte geklagt hat, sagt die Historikerin: »Wenigstens haben Sie es hier schön kühl, in den anderen Räumen ist es viel wärmer.«

Dann muss Anja Siegemund auch schon los, um den nächsten Gast der Lesenacht »Berlin – Jerusalem, Jerusalem – Berlin« anzumoderieren. Auf der Lesebühne nehmen an diesem Abend Klaus Hillenbrand von der »taz«, Schauspielerin Alina Weinert, der Literaturwissenschaftler Thomas Sparr und Nirit Bialer, die Gründerin der Kultur-Initiative »Habait«, Platz. 20 bis 30 Minuten haben sie jeweils Zeit, um das Publikum für ihren Text zu gewinnen.

Während die einen aufmerksam zuhören, lassen sich andere von Andrej Hermlin durch die Dauerausstellung führen. Der Pianist erzählt dabei von seiner deutsch-jüdischen Familiengeschichte.

ANSPRUCH Bis spät in die Nacht stehen die Besucher an jenem Samstagabend vor dem Eingang in der Oranienburger Straße an. »Zu Spitzenzeiten ging die Warteschlange bis zum S-Bahnhof Oranienburger Straße«, sagt Anja Siegemund, die sich über so viel Interesse freut. Das letzte Mal, dass das Museum seine Türen zur Langen Nacht geöffnet hatte, liegt bereits einige Jahre zurück. Im Vorfeld sei im Organisationsteam viel überlegt worden. Abwechslungsreich und zeitgemäß sollte die Lange Nacht werden. Das war der Anspruch. Und es ist gelungen.

Jom Haschoa

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