Porträt der Woche

Zwischen Karies und Kunst

»Mir reicht die Darstellung von Juden als eindimensionale Opfer nicht – ich wollte ein differenzierteres Bild zeichnen«: Leo Khasin (47) lebt in Berlin. Foto: Rolf Walter / xpress.berlin

Porträt der Woche

Zwischen Karies und Kunst

Leo Khasin ist Zahnarzt und auch als Filmemacher erfolgreich

von Gerhard Haase-Hindenberg  21.02.2021 10:29 Uhr

Als meine Mutter damals in der Sowjetunion Zahnmedizin studieren wollte, wurde ihr der Studienplatz verweigert, weil sie Jüdin war. Sie wollte aber trotzdem Zahnärztin werden und hat sich wieder und wieder beworben, und beim fünften Versuch wurde sie angenommen. Am Ende hat sie als Jahrgangsbeste ihr Studium absolviert. Sie ist ein Typ, der sich nicht unterkriegen lässt.

Abitur Als ich viele Jahre später in Deutschland ein eher durchschnittliches Abitur gemacht habe, hatte ich für dasselbe Studium mit Wartesemestern zu rechnen. Das war mir gar nicht so unrecht, denn ich stand interessenmäßig zwischen Familientradition und Kunst. Am Gymnasium hatte ich schon kleine Filme gedreht und konnte mir einen beruflichen Weg auch in diese Richtung vorstellen. Aber es kam anders. Ich habe sofort den Studienplatz erhalten.

Während des Studiums habe ich dann an einem Berliner Off-Theater gespielt und eine Menge Erfahrung gesammelt. Dabei habe ich gemerkt, dass mich die Arbeiten hinter der Bühne noch mehr interessieren. In dieser Zeit habe ich angefangen, eigene Sachen zu schreiben.

Bei unserem Wegzug aus meiner Geburtsstadt Moskau im Jahr 1981 war ich acht Jahre alt. Danach lebte unsere Familie erst in Bremen, dann nach einer Zwischenstation in Waltrop, einem kleinen Ort in der Nähe von Dortmund, seit 1984 in Berlin. Seither hat meine Mutter hier eine Praxis.

In den Ferien fuhr ich immer zu einer orthodoxen Familie in die Schweiz.

Unter ihren Patienten gab es einen russischen Juden, der sehr religiös war. Er war mit einer Frau verheiratet, die aus einer streng orthodoxen Familie in Zürich stammte und ein Ferienhaus in St. Moritz hatte. Auf Einladung haben meine Eltern mich dann in den Ferien zu dieser orthodoxen Familie geschickt.

Da bin ich zum ersten Mal mit religiösem Judentum in Berührung gekommen und war total fasziniert. Zunächst einmal von diesen Menschen, die ich da kennengelernt habe. Sie vertraten einen sehr starken sozialen Gedanken. Allein schon, dass sie mich, einen fremden Jungen, einfach aufgenommen haben! Das war für sie total normal. Sie haben mir vieles beigebracht, mich aber zu nichts gedrängt.

IDENTITÄT Und dann war ich sehr fasziniert von den religiösen Riten. Alle orthodoxen Juden, die zu der Zeit in St. Moritz Urlaub machten, haben das Haus als Synagoge benutzt. Hier habe ich zum ersten Mal Tischa beAw erlebt. Da haben die Männer die ganze Nacht gefastet und gebetet. Es war alles so neu für mich: die Kleidung, das Beten, das Jiddisch. Ich war mehrere Sommer da.

Zu Hause in Berlin trug ich noch eine Weile Zizit und Kippot, aber das habe ich dann wieder abgelegt. Nun ging ich ins Jüdische Jugendzentrum und mit zwölf zum ersten Mal auf Machane. Das wurde dann meine Welt, ich hatte meine Identität gefunden.

Leider habe ich keine Barmizwa gemacht, obwohl ich schon dafür zu lernen angefangen hatte.

Leider habe ich keine Barmizwa gemacht, obwohl ich schon dafür zu lernen angefangen hatte. Aber ich war mitten in der Pubertät und wollte plötzlich einfach nicht mehr lernen. Der Unterricht war wenig inspirierend. Ein Chasan in der Synagoge Joachimsthaler Straße hatte mir eine Kassette gegeben und gesagt: »Hier, lerne das auswendig!« Ich wurde auch nicht an meine Parascha herangeführt, und so hatte ich schnell die Lust verloren.

Meine Eltern haben zunächst noch versucht, mich zu motivieren, weil ihnen Bildung sehr wichtig ist. Gleichzeitig aber hatten sie selbst keinen Zugang zur Religion. Und irgendwann haben sie zu mir gesagt: »Wenn du nicht willst, dann lerne eben nicht.« Als später mein eigener Sohn seine Barmizwa hatte, habe ich es sehr bedauert, damals abgebrochen zu haben.

PRAXIS Nach dem Studium habe ich in der Praxis meiner Mutter als Zahnarzt gearbeitet. Gleichzeitig aber habe ich jede Möglichkeit genutzt, um in der Filmbranche Fuß zu fassen. Ich war in der Aufnahmeleitung tätig und auch als Regieassistent. Dann habe ich ein einjähriges Programm an der Kaskeline-Filmakademie in Berlin absolviert. Dort wurde ich sehr belächelt: ein Zahnarzt!

Mein Abschlussfilm hieß Liebe Mutter. Er lief auf unzähligen Kurzfilm-Festivals, hat viele Preise gewonnen und wurde so zum Aushängeschild der Schule. Darin ging es um einen jungen Mann, der sich in einem Brief an seine Mutter als erfolgreicher Typ beschreibt. Aber am Ende kommt heraus, dass er den Brief in einem Gefängnis schreibt und eigentlich Kohle braucht. Ich habe bei diesem Film alles selbst gemacht: geschrieben, die Musik ausgewählt, Regie geführt und selbst geschnitten.

Nun hatte ich richtig Blut geleckt und habe weitere Kurzfilme gedreht. Ein Film, der für den Deutschen Kurzfilmpreis nominiert war, hieß Durst. Dann habe ich den Film Kick Back gedreht, der im Kurzfilmprogramm auf der Berlinale lief. Das passierte alles parallel zu meiner Arbeit als Zahnarzt. Schließlich erfuhr ich von einem Programm an einer Filmautorenschule, woran ich dann teilnahm.

AGENTUR Dort habe ich mein Projekt Kaddisch für einen Freund geschrieben. Eine Agentur ist darüber auf mich aufmerksam geworden und hat mich mit einem Produzenten zusammengebracht. Der hat meinen ersten Spielfilm produziert, eben Kaddisch für einen Freund. Darin ging es um einen palästinensischen Jungen, der in Berlin-Kreuzberg bei einem russischen Juden einbricht. Quasi als Mutprobe, weil er eben wusste, dass der ein Jude ist.

Der palästinensische Junge wird erwischt und muss als Entschädigung die Wohnung des russischen Juden renovieren. In dieser Zeit erfährt er die bewegende Lebensgeschichte des Mannes und freundet sich mit ihm an. Dieser Film hat den Deutschen Filmpreis gewonnen.

Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, dem Film endgültig den Rücken zu kehren, da rief mich eine Producerin an.

Danach habe ich lange Zeit vieles ausprobiert, vieles geschrieben, einiges entwickelt. Vieles hat nicht geklappt. Tja, und nach einer Weile war ich nicht mehr so auf dem Radar vieler Produzenten. Inzwischen hatte ich mich auch von meiner Agentur getrennt. Nicht weil sie schlecht war, sondern einfach, weil ich gemerkt habe, dass ich gar nicht so sehr ins Bild der deutschen Fernsehlandschaft passe. Ich kann nun mal keinen Tatort schreiben, und eigentlich bin ich daran auch nicht interessiert. An viele Themen gehe ich einfach anders heran, und damit konnten die Produzenten nicht viel anfangen.

Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, dem Film endgültig den Rücken zu kehren, da rief mich eine Producerin an. Wir kannten uns von einem gemeinsamen Projekt, das nicht realisiert worden war. Offenbar aber bin ich ihr in Erinnerung geblieben.

MASKEN Sie fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, einen Film über Antisemitismus an Schulen zu machen. Und ich sagte intuitiv: »Warum nicht?« Der aufkeimende Antisemitismus in Deutschland irritierte mich schon lange. Da durfte ich mich nicht drücken.

Es gab anfänglich keine klare Geschichte und kein Genre. Auf »Arte« sah ich eine Reportage über Oskar, einen jüdischen Jungen, der an einer Schule in Berlin-Friedenau gemobbt worden war. Diese Reportage hat mich einerseits inspiriert, andererseits dachte ich, da gibt es ja schon eine Geschichte, die muss nicht noch mal erzählt werden. Viel lieber wollte ich etwas erzählen, was bisher nicht gezeigt wurde. Keine Floskeln und Masken, sondern die Befindlichkeiten von allen Beteiligten.

Mein Film Das Unwort folgt nicht dem klassischen Muster.

Jedenfalls waren mir Juden als eindimensionale Opfer nicht genug. Ich wollte ein differenzierteres Bild zeichnen. Meine israelische Frau und ich haben selbst Kinder in einem ähnlichen Alter wie Oskar und die anderen jüdischen Kinder, die in Berlin gemobbt wurden. Ich kann also nachvollziehen, wie man sich fühlt. Ich wollte aus meinen eigenen Erfahrungen und Beobachtungen schöpfen. So wurde schließlich aus der Idee eine Tragikomödie.

»UNWORT« Mein Film Das Unwort folgt nicht dem klassischen Muster. Vielmehr hat er einen ungewöhnlichen Ansatz, und das stößt vielleicht einigen auf. Es hat mich verwundert, wenn Kritiker schrieben: Tja, wenn der Nahostkonflikt so einfach wäre! Da denke ich: Habt ihr den Film gesehen?

Es geht nicht nur um den Nahostkonflikt, sondern in erster Linie um Antisemitismus an Schulen in diesem Land. Irgendwann blendete ich diese Kritiken einfach aus, weil sie mich nicht weiterbringen.

Zurzeit arbeite ich an einem neuen Filmprojekt. Ich hatte ernsthaft vor, der Versuchung zu widerstehen, wieder ein jüdisches Thema anzufassen. Es hat nicht geklappt!

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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