München

Zwischen allen Fronten

Hans Jürgen Stockerl und Michael Brenner (r.) bei der Veranstaltung in der Monacensia Foto: Marina Maisel mamai@online.de

Immer wieder gab es Juden an Umbruchstellen der Menschheitsge­schich­te, ob bei der Geburtsstunde einer Weltreligion oder bei Kapitalismuskritik, dem Vorstoß ins Seelenleben oder der Gründung eines Weltreichs, in dem alle Menschen am Staatsgut gleich beteiligt sein sollten. Gerade die Russische Revolution war nach innen in den eigenen Kadern sowie von außen betrachtet von antijüdischen Ressentiments begleitet.

Umso mehr wunderte sich Michael Brenner schon als Geschichtsstudent, dass die Forschung in Deutschland einen faszinierenden Aspekt vernachlässigt hatte, nämlich die Beteiligung von Juden an der Revolution, die das Ende der Monarchie in Bayern bedeutete. Eine Gruppe allerdings habe sich gerne mit dem Thema beschäftigt, »die Antisemiten selbst«, so Brenner.

VORDENKER Wie der inzwischen international renommierte Historiker in einem höchst spannenden Vortrag in der Monacensia ausführte, gerieten die »Münchner Juden in Revolution und Räterepublik 1918/19«, so der Titel, zwischen alle Fronten: als intellektuelle Vordenker, politische Akteure, jüdische Bürgerschaft und Sündenböcke. Die einen riskierten Kopf und Kragen, die anderen wollten sich und die Ihren davor bewahren, in den Strudel der Ereignisse gezogen zu werden.

Einige riskierten Kopf und Kragen, andere wollten nicht in den Strudel der Ereignisse geraten.

In einem offenen Brief »an die Herren Erich Mühsam, Dr. Wadler, Dr. Otto Neurath, Ernst Toller und Gustav Landauer« vom 6. April 1919, »dem Vorabend des Pessachfestes 5679«, warnte Kommerzienrat Siegmund Fraenkel, Vorsitzender des orthodoxen Synagogenvereins Ohel Jakob, vor den »destruktiven Tendenzen ehrgeiziger Revolutionspolitiker«, deren Auftreten nur neuen Antisemitismus erzeuge.

Hatte er anfangs auf den symbolträchtigen Feiertag und die gemeinsame Herkunft und Solidarität untereinander Bezug genommen, so distanzierte Fraenkel sich am Ende deutlich: »Unsere Hände sind rein von den Greueln des Chaos und von dem Jammer und Leid, das Ihre Politik über Bayerns zukünftige Entwicklung heraufbeschwören muß. Sie allein, und nur Sie, tragen hierfür die volle Verantwortung.«

potenzial Nach dem geflügelten Wort »Die Trotzkis machen die Revolu­tion, und die Bronsteins zahlen den Preis« war den Münchner Juden, die sich als Teil der Stadtgesellschaft und in Bayern verankert fühlten, nicht nur das antisemitische Potenzial in ihrer Umgebung, sondern auch die trübe Aussicht bewusst, »wenn es nicht gut geht mit der Revolution, werden die Juden dafür büßen«.

Michael Brenner beschreibt die komplizierte Gemengelage, die Widersprüchlichkeiten und Vorurteile. Im Stillen hofften manche Juden, die neue Situation werde die Emanzipation voranbringen. Der Jurist Max Friedländer hatte anfangs Sympathien, die in eine Distanzierung von den jüdischen Vertretern der Räterepublik umschlug.

Als Siegmund Fraenkel seinen Brandbrief schrieb, war der erste bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner bereits knapp eineinhalb Monate tot.

Als Fraenkel seinen Brandbrief schrieb, war der erste bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner bereits knapp eineinhalb Monate tot; ermordet von Anton Graf von Arco auf Valley, von dem Publizisten Sebastian Haffner polemisch apos­trophiert als »halbjüdischer Nazi«.

Eugen Leviné, der von sich sagte: »Mein Kopf denkt jüdisch, russisch fühlt mein Herz«, galt als Kopf der zweiten Räterepublik. Am 3. Juni 1919 zum Tode verurteilt, fand »ausgerechnet der radikalste der jüdischen Revolutionäre« seine letzte Ruhe auf dem Neuen Israelitischen Friedhof, mit einer Grabrede von dem monarchistisch gesinnten Rabbiner Leo Baerwald, »während die ermordeten Eisner und Landauer auf dem städtischen Ostfriedhof und dem Schwabinger Friedhof« lagen, bis man ihre Urnen 1933 zwangsweise auf ebendiesen jüdischen Friedhof überführte.

Kurt Eisner, der kurz zuvor noch von allen Seiten als Fremder geschmäht wurde, zog nach seinem Tod mehr als 100.000 Trauernde auf die Straßen. Die Grabrede hielt Landauer, nicht wissend, dass er am 2. Mai 1919 in der Haft totgeschlagen würde.

glaubensgenosse Der gebürtige Berliner Erich Mühsam, seit 1908 in München ansässig, stellte in einem Brief an seinen so anders denkenden Glaubensgenossen Siegmund Fraenkel klar: »Daß ich Jude bin, betrachte ich weder als Vorzug, noch als einen Mangel, es gehört einfach zu meiner Wesenheit wie mein roter Bart, mein Körpergewicht oder meine Interessen-Veranlagung.«

Michael Brenner ließ den Sprecher Hans Jürgen Stockerl im bis auf den letzten Platz gefüllten Vortragssaal der Mo­nacensia-Bibliothek Auszüge aus Zeitungsartikeln, Flugblättern und Erinnerungen vortragen, die zum einen die Pogromangst der Münchner Juden deutlich machten, zum anderen die Allgegenwart antijüdischer Polemik in Zeitungen und Verlautbarungen zeigten.

Das Dilemma wird vollends deutlich in einem Leitartikel des Regensburger Rabbiners Seligmann Meyer für die »Deutsche Israelitische Zeitung« im Januar 1919, in dem er begründet: »Warum muß der religiöse Jude mit der Bayerischen Volkspartei wählen«, obwohl dort antisemitische Meinungen kursierten. Der Grund: weil diese erzkonservative, katholische Partei für Konfessionsschulen eintrat.

Michael Brenner: »Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923«. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 400 S., zahlreiche Abb., 28 €

Von der Kuratorin der gleichnamigen Ausstellung in der Monacensia, Laura Mokrohs, ist zum Thema erschienen: »Dichtung ist Revolution. Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam, Ernst Toller. Bilder, Dokumente, Kommentare«. Friedrich Pustet, Regensburg 2018, 128 S., 20 €

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