Gedenken

»Wir verstehen es bis heute nicht«

Kaddisch vor dem Gemeindehaus Foto: Rolf Walter/xpress.berlin

»Fuchs, Grete. Fuchs, Günther.« Lea Rosh betont jede Silbe. Hält zwischen den Namen kurz inne. Die Initiatorin des Berliner Holocaust-Mahnmals muss mit den Tränen kämpfen, als sie die Namen der ermordeten Berliner Jüdinnen und Juden in alphabetischer Reihenfolge vorliest.

Vor dem Gemeindehaus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin in der Fasanenstraße ist am letzten April-Donnerstag wie jedes Jahr am Jom Haschoa, dem Holocaust-Gedenktag, ein Pult mit Mikrofon aufgebaut. Darauf liegt aufgeschlagen das Gedenkbuch des Landes Berlin mit den 55.696 von den Nazis ermordeten Berliner Juden. Jeder Berliner kann sich an der Namenslesung beteiligen.

Seit 9 Uhr morgens wechseln sich die Lesenden ab. Bis 23 Uhr wird die Namenslesung fortgesetzt. Unterbrochen wird sie nur von dem offiziellen Gedenken der Jüdischen Gemeinde zu Berlin auf dem Vorplatz des Gemeindehauses an diesem Jom Haschoa, an dem zugleich auch an den 79. Jahrestag des Warschauer Ghetto-Aufstandes erinnert wird.

EHRUNG Zahlreiche Gäste aus Politik und Gesellschaft treffen ein, darunter die Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses, Bahar Haghanipour (Grüne), die Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund, Ana-Maria Trasnea (SPD), die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Berliner SPD, Derya Çaglar, die Fraktionsvorsitzenden der Berliner CDU, Kai Wegner, sowie der Linkspartei, Carsten Schatz, die Berliner Grünen-Abgeordneten Gollaleh Ahmadi und Turgut Altug wie auch der Gesandte der Israelischen Botschaft Berlin, Aaron Sagui, und Lea Rosh. »Wir sind heute hier, um die Ermordeten zu ehren«, sagt Gemeindevorstand Gideon Joffe.

Jeder Berliner kann sich an der Namenslesung beteiligen.

Mit sehr persönlichen Worten erinnert er an die sechs Millionen ermordeten jüdischen Frauen, Männer und Kinder. Sie seien unvergessen. Juden hätten während der Schoa »versucht zu fliehen, sich zu verstecken, häufig auch zu kämpfen, aber große Unterstützung war nicht da«, stellt Joffe bitter fest.

»Babys waren schon zum Tode verurteilt, ebenso der Greis, der im Ersten Weltkrieg fürs deutsche Vaterland gekämpft hat. Und das nur 20 Jahre später – die Schoa war ein Novum in der Menschheitsgeschichte«, erinnert Joffe an die Geschehnisse vor 80 Jahren. »Wir verstehen bis heute nicht, wie dieser Hass überhaupt entstehen konnte.«

ZEITZEUGEN Umso dankbarer sei er den Überlebenden, hochbetagten Zeitzeugen wie Assia Gorban. Die 89-Jährige kam vor fast 30 Jahren aus Moskau nach Berlin. Geboren ist sie in der Ukraine. Als junges Mädchen überlebte sie das Ghetto Mogilev-Podolskiy und das Konzentrationslager Petschora. Nach der Befreiung durch die Rote Armee holte sie ihr Abitur nach und wurde Lehrerin. »Sie sind uns ein Vorbild«, zollte Gideon Joffe der 89-Jährigen Respekt.

Denn sie hätte es geschafft, trotz der Tragödie ein Leben nach der Schoa aufzubauen, erzähle als Zeitzeugin von ihren Erlebnissen. Viele Überlebende seien sogar ins Land der Täter zurückgekehrt, andere seien zugewandert, um hier aktiv neues jüdisches Leben zu gestalten. »Dafür danken wir Ihnen zutiefst. Ihr Beispiel wollen wir an die folgenden Generationen weitergeben«, so Joffe.

Westeuropa sei »eine Oase der Freiheit und des Friedens«, der Gefahr laufe, zerstört zu werden.

Er sei froh, in einer liberalen und weltoffenen Stadt wie Berlin und in einer demokratischen und offenen Gesellschaft wie der deutschen zu leben, betonte Gideon Joffe und wandte sich direkt an die Anwesenden. »Dass Sie heute alle hier sind, ist ein Beispiel dafür, wie man Gedenken gemeinsam gestalten, neue Wege finden kann.« Westeuropa sei »eine Oase der Freiheit und des Friedens«, der Gefahr laufe, zerstört zu werden.

Im Anschluss an die Gedenkveranstaltung legten Gemeinde und Gäste am Mahnmal vor dem Gemeindehaus Kränze nieder. Kantor Isidoro Abramowicz sang das Totengebet »El Male Rachamim«, Rabbiner Yitshak Ehrenberg sprach das Kaddisch. Und die Namen der Ermordeten hallten weiter in der Fasanenstraße nach.

Unterstützung

38.000 jüdische Kontingentflüchtlinge erhielten Rentenausgleich

Nach Angaben der Stiftung Härtefallfonds des Bundes wurden insgesamt 169.000 Anträge geprüft

 01.09.2025

Vorschau

Volk des Buches

Zum Europäischen Tag der jüdischen Kultur

von Nora Niemann  01.09.2025

Meinung

Schlechte Zeiten für Frankfurts Juden

Durch die Radikalisierung der israelfeindlichen Szene ist die jüdische Gemeinschaft der Mainmetropole zunehmend verunsichert. In der Stadtgesellschaft interessiert das jedoch nur wenige

von Eugen El  01.09.2025

Vor 80 Jahren

Neuanfang nach der Schoa: Erster Gottesdienst in Frankfurts Westendsynagoge

1945 feierten Überlebende und US-Soldaten den ersten Gottesdienst in der Westendsynagoge nach der Schoa

von Leticia Witte  01.09.2025

Forschung

Storys per QR-Code

Studierende der TU recherchieren zu Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf

von Helmut Kuhn  31.08.2025

Bildung

Mathe, Kunst, Hebräisch

Diese Woche ist die Jüdische Grundschule in Dortmund feierlich eröffnet worden. Warum entscheiden sich Eltern, ihr Kind auf eine konfessionell geprägte Schule zu schicken – und warum nicht?

von Christine Schmitt, Katrin Richter  31.08.2025

Essay

Wie eine unsichtbare Wand

Immer sind Juden irgendetwas: Heilige oder Dämonen, Engel oder Teufel. Dabei sind wir ganz normale Menschen. Warum nur gibt es immer noch Erstaunen und teils Zurückweisung, wenn man sagt: Ich bin jüdisch?

von Barbara Bišický-Ehrlich  31.08.2025

Porträt der Woche

Sprachen, Bilder, Welten

Alexander Smoljanski ist Filmemacher, Übersetzer und überzeugter Europäer

von Matthias Messmer  31.08.2025

Würdigung

Tapfer, klar, integer: Maram Stern wird 70

Er ist Diplomat, Menschenfreund, Opernliebhaber und der geschäftsführende Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses. Zum Geburtstag eines Unermüdlichen

von Evelyn Finger  29.08.2025