Berlin

Willkommen im Alltag

Jan Mühlstein hatte sich viel vorgenommen. Bei 37 Grad im Schatten eilte er von Workshop zu Workshop, warf Bemerkungen ein, munterte auf und notierte Anregungen. Sichtlich zufrieden war der Chef der Union Progressiver Juden (UPJ) mit deren 16. Jahrestagung am vergangenen Wochenende. »Wir erleben gefestigte religiöse Praxis, und die Zahl der Interessierten von außerhalb wächst«, freute sich Mühlstein. Im Spandauer Forst hatten die Liberalen eine viertägiges Treffen organisiert, das an das Limmud-Lern-Festival vom Mai erinnerte.

Einziges »Problem« – neben der sengenden Julihitze – war die Qual der Wahl bei zahlreichen Parallelveranstaltungen: Gemeindemanagement oder lieber Textanalyse? Israel-Seminar oder liturgische Neuheiten? Koschere Rezepte oder doch lieber historische Lehrstunde? In Rabbiner Ben Chorins Doppel-Seminar über die Posener Reformjuden von 1913 hatten die Teilnehmer nicht genügend Stühle. Große Resonanz fanden auch die drei aufeinanderfolgenden Schacharit-Gottesdienste, deren Gestaltung Studenten des Abraham Geiger Kollegs oblag. »Die Freude hat einfach alle erfasst, es war familiäre Atmosphäre«, resümierte Rabbiner-Student Strasko Paul aus Philadelphia. Wem der Sinn mehr nach Kunst und Unterhaltung stand, der konnte täglich jiddische, hebräische und russische Tänze und Gesänge »auf der Bühne« erleben.

Tagespolitik Auffällig zudem, dass gleich eine Handvoll Workshops auf brennende gesellschaftliche Fragen zielte. Rabbiner Henry G. Brandt erklärte Fort- und Rückschritte im jüdisch-christlichen Dialog. Trotz seltsamer Neuheiten in Karfreitagsgebeten »für die Juden« und irritierender vatikanischer Nachsicht für Holocaust-Leugner à la Williamson sieht Brandt den Dialog selbst mit der Katholischen Kirche auf stabilen Beinen. »Wir müssen uns aber mühen«, fordert der Rabbiner, »dass Dialogergebnisse tatsächlich auch die christliche Basis erreichen. Bisher ist dort wohl recht wenig angekommen.«

Mit weit größerer Besorgnis sieht der Rabbiner neue Formen von Antisemitismus entstehen, so auch den wachsenden radikalen Islamismus in Europa. Erst kürzlich wurde die Zuwanderertanzgruppe Chaverim der Liberalen Gemeinde Hannover Ziel muslimischer Steinewerfer. »Es war eine schlimme Erfahrung, die nachwirkt und nun ganz neue Fragen aufwirft«, erzählte die Hannoveraner Gemeindevorsitzende Ingrid Wettberg. Und wohl gerade deshalb besuchte sie den Workshop zu »Chancen und Herausforderungen des jüdisch-muslimischen Dialogs«, geleitet vom türkischen Muslim Ufuk Topkara. Seit Jahren führt der junge Historiker muslimische Schüler durch das Jüdische Museum Berlin, erlebt dabei unterschiedlichste Reaktionen und will nun helfen, gegenseitige Stereotype zwischen Muslimen und Juden abzubauen.

Solidarität Dass Israel mehr Solidarität als je zuvor benötigt, machte David Breakstone, Vizepräsident des Zionistischen Weltkongresses, klar. Er habe in Isreal in den vergangenen Jahren einen »starken Zuwachs an Masorti- und Reformschulen mit erfrischend offener Atmosphäre« erlebt, sagte der gebürtige Amerikaner. Gerade bei Zionisten mit liberalem Hintergrund sieht Breakstone hoffnungsvoll stimmendes Potenzial: »Bewegungen wie Merkaz und Arzenu bringen Emanzipation, Demokratie und Modernität sichtbar zusammen. Das kann helfen, entstandene Gräben zwischen Israel und der Diaspora wieder zu verkleinern.«

Auch das Thema Globalisierung griff die Union auf. Leslie Bergman, Wirtschaftsdozent aus Wien, sprach zu Talmudischen Perspektiven auf die weltweite ökonomische Vernetzung. Jüdischer Ethik, so der Referent, sei Pragmatismus und Idealismus gleichermaßen inhärent. Er zitierte Maimonides, der schon im 12. Jahrhundert der wirtschaftlichen Selbsthilfe für schwächer Gestellte das Wort redete. »Mit unternehmerischer Anstrengung Gewinn zu erarbeiten, ist etwas grundsätzlich Positives«, betonte Leslie Bergman. »Doch wie wir ihn verteilen, dazu bietet die Tora einen moralischen Kompass.«

Zuzugsstopp Vier Tage vollgepackt mit gut besuchten Workshops, inspirierenden Gottesdiensten und künstlerischen Darbietungen ließen dennoch Raum für Rückschau und eigene Standortbestimmung. Zwischen Pinneberg und München verfügt die Union heute über 22 lokale Gemeinden. Die restriktiven Neuregelungen zur russisch-jüdischen Zuwanderung durch die Bundesregierung aus dem Jahr 2005 haben den Mitgliederzuwachs auch in den liberalen Gemeinden deutlich verlangsamt. Laut Jan Mühlstein gehe es deswegen derzeit vor allem um »organisatorische Festigung, verbesserte religiöse Betreuung und intensivierte Jugendarbeit.«

Der Austausch mit anderen böte gute Chancen, sich zu ergänzen. Verhandelt werde über die Eingliederung weiterer Unionsgemeinden in Landesverbände des Zentralrats der Juden in Deutschland. Die Einsätze von Geiger-Kolleg-Studenten in Einheitsgemeinden mit egalitärem Minjan seien mittlerweile fast schon Normalität.

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  15.09.2025 Aktualisiert

Sachsen-Anhalt

Erstes Konzert in Magdeburger Synagoge

Die Synagoge war im Dezember 2023 eröffnet worden

 15.09.2025

Thüringen

Jüdisches Bildungsprojekt »Tacheles mit Simson« geht erneut auf Tour

Ziel des Projektes sei es, dem Aufkommen von Antisemitismus durch Bildung vorzubeugen, sagte Projektleiter Johannes Gräser

 15.09.2025

Essen

Festival jüdischer Musik mit Igor Levit und Lahav Shani

Der Festivalname »TIKWAH« (hebräisch für »Hoffnung«) solle »ein wichtiges Signal in schwierigen Zeiten« setzen, hieß es

 15.09.2025

Berlin

Margot Friedländer Preis wird verliehen

Die mit insgesamt 25.000 Euro dotierte Auszeichnung gehe an Personen, die sich für Toleranz, Menschlichkeit, Freiheit und Demokratie einsetzen

 15.09.2025

München

»In unserer Verantwortung«

Als Rachel Salamander den Verfall der Synagoge Reichenbachstraße sah, musste sie etwas unternehmen. Sie gründete einen Verein, das Haus wurde saniert, am 15. September ist nun die Eröffnung. Ein Gespräch über einen Lebenstraum, Farbenspiele und Denkmalschutz

von Katrin Richter  14.09.2025

Hamburg

»An einem Ort getrennt vereint«

In der Hansestadt soll die Bornplatzsynagoge, die in der Pogromnacht von den Nazis verwüstet wurde, wiederaufgebaut werden. Ein Gespräch mit dem Stiftungsvorsitzenden Daniel Sheffer über Architektur, Bürokratie und Räume für traditionelles und liberales Judentum

von Edgar S. Hasse  13.09.2025

Meinung

»Als Jude bin ich lieber im Krieg in der Ukraine als im Frieden in Berlin«

Andreas Tölke verbringt viel Zeit in Kyjiw und Odessa – wo man den Davidstern offen tragen kann und jüdisches Leben zum Alltag gehört. Hier schreibt er, warum Deutschland ihm fremd geworden ist

von Andreas Tölke  13.09.2025

Porträt der Woche

Das Geheimnis

Susanne Hanshold war Werbetexterin, Flugbegleiterin und denkt über Alija nach

von Gerhard Haase-Hindenberg  13.09.2025