Frankfurt

Was heißt eigentlich Heimat?

Live-Übertragung aus dem Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum: Buchautorin Dunja Hayali und Kulturdezernent Marc Grünbaum. Immer mit dabei: Hayalis Hündin Wilma Foto: Rafael Herlich

Beide haben sie Schlüsselerfahrungen mit Ausgrenzungen gemacht. Am vergangenen Donnerstag diskutierten sie darüber: Gastgeber Marc Grünbaum, Kulturdezernent der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, und sein Gast, die Journalistin und Moderatorin Dunja Hayali.

Sie sprachen im Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum ohne Publikum, aber per Live-Übertragung im Internet über Hayalis Buch Haymatland. Wie wollen wir zusammenleben? und darüber, wie man sich heimatlich fühlen kann.

Kurz vor dem Abitur, erzählt Grünbaum, habe er seinem Vater gesagt, dass er Jura studieren wolle. Darauf habe dieser ihm entgegnet: »Marc, du wirst nie ein Gerichtsverfahren gewinnen, weil du Jude bist.«

WELLE Hayali erinnert sich daran, wie Claus Kleber kurz vor ihrer ersten Sendung als Co-Moderatorin des ZDF-»heute journal« sagte: »Das wird eine Welle auslösen, bereite dich darauf vor. Es werden nicht nur nette Zuschriften dabei sein.« Und das hat sich bewahrheitet, schildert Hayali.

»Ich musste herleiten, wo ich herkomme, was mich geprägt hat«, beschreibt Hayali ihre Motivation zu dem Buch. Sie wurde 1974 in Datteln im Ruhrgebiet geboren. Ihre irakisch-christlichen Eltern waren nach einer Zwischenstation in Wien, wo sie sich kennenlernten und heirateten, in den 60er-Jahren in die Bundesrepublik gekommen.

DISKURSE »Damals gab es keine Diskurse über Integration und Assimilation, denn es wurde praktiziert, zumindest bei uns«, schreibt Hayali in ihrem Buch. Ihre Eltern hätten ein sehr offenes Haus gehabt. »Es war nie wahrnehmbar, dass wir anders sind.«

Heimat sei nicht per se durch die Geburt und Herkunft der Eltern festgelegt, habe sie erfahren. Sie gebe Sicherheit und Stärke. Ihre persönliche Heimat sei immer dort, wo ihre Familie und ihre Freunde sind. »Ich bin durch und durch deutsch«, betont Hayali. Jedoch habe sich das Heimatgefühl bei ihr in letzter Zeit leider verflüchtigt.

Hayali hat sich nie als Ausländerin gefühlt. »Ich bin durch und durch deutsch«, sagt sie.

Vor vielen Jahren habe ihr Vater auf dem Weg zum Tennisplatz zu ihr gesagt: »Vergiss nie, wo du herkommst, du wirst immer eine Ausländerin bleiben.« Über diesen Satz sei sie empört gewesen, erinnert sich Hayali.
»Ich verstehe das nicht, ich bin hier geboren, ich gehöre hierhin«, war ihre damalige Reaktion. Der Satz kam ihr wieder in Erinnerung, als Claus Kleber sie vor ihrer ersten gemeinsamen Sendung warnte.

Hayali war Bedrohungen auf offener Straße und in den, wie sie sagt, »asozialen Medien« ausgesetzt. Dennoch tritt sie immer wieder dafür ein, nicht nur auf Ereignisse wie die Anschläge in Halle und Hanau zu schauen, sondern auch die alltägliche Ausgrenzung in den Blick zu nehmen.

VERLUSTANGST Im Verlauf des Gesprächs mit Dunja Hayali formuliert Grünbaum weitere Sorgen. Die Angst vor dem Verlust von Heimat treibe ihn spätestens seit den Wahlerfolgen der AfD um. »Ich befürchte, dass Corona, was die Zukunft anbelangt, gerade Themen wie AfD, Toleranz, Integration nicht erleichtern wird«, sagt Grünbaum.

In der Krise könnten die Menschen offener für Hetze der AfD werden, befürchtet er. Vom Biografischen wendet sich das Gespräch im Laufe des Abends zunehmend zum Politischen. Die zupackende, trotz allem optimistische Rolle übernimmt dabei Dunja Hayali.

Die AfD sei das Resultat von Fehlern, Frust und Angst. »Manchmal, glaube ich, überschätzen wir sie«, betont die Journalistin. »Es liegt alles über diese Partei auf dem Tisch«, sagt sie und zeigt kein Verständnis für jene, die aus Protest die AfD wählen. »Ich halte die AfD für gefährlich«, betont Marc Grünbaum. Sie sei für ihn eine rechtsradikale Partei, aber geschickter als frühere rechte Parteien. Denn sie gehe strategisch vor.

DIALOGBEREITSCHAFT »Die Lösung ist nicht, den Kopf in den Sand zu stecken.« Die Politik müsse besser werden, mehr erklären, endlich auch Lösungen liefern, sagt Dunja Hayali und plädiert für Zuversicht.

In der Corona-Krise habe man gesehen, dass mit der Abnahme der Erklärungen die Proteste auf der Straße zugenommen haben. »Die Bürger haben ein Recht auf Antworten und auf bessere Kommunikation«, betont Hayali.

In der Krise könnten die Menschen offener für die AfD werden, befürchtet Marc Grünbaum.

Trotz ihrer Kritik zeigt sich Hayali als Verfassungspatriotin. In einem weiteren Kapitel, aus dem sie vorliest, heißt es: »Meine Heimat ist nicht die Heimat der Heimatschützer vom rechten Rand.«

Ihre Heimat seien Freiheit, Demokratie und das Grundgesetz. Demokratie sei kein Selbstbedienungsladen und auch keine Selbstverständlichkeit. »Ich finde, wir haben sehr viel zu verlieren«, sagt sie. Auch das sei für sie ein Grund gewesen, das Buch zu schreiben.

HASSNACHRICHTEN Kommunikation sei nun einmal das probateste Mittel: »Für mich geht der Weg nur über den Dialog, weil das Kennenlernen essenziell ist«, betont Hayali und erzählt von Hassnachrichten, die sie beantworte – und dann durchaus auch Entschuldigungen erhalte.

Es sei für sie als Journalistin wichtig, den anderen zu verstehen, ohne Verständnis zu haben. Deswegen spreche sie beruflich unter bestimmten Voraussetzungen auch mit extremen Rechten und Linken.

Den persönlichen Austausch zieht sie auch der durch die Corona-Krise beschleunigten Digitalisierung vor. »Ich glaube, die Menschen müssen wieder mehr miteinander sprechen und weniger auf dieses Gerät schauen«, sagt sie und hebt ihr Smartphone hoch: »Wir brauchen den Austausch, wir müssen uns begegnen.« Es sei wichtig, auch Menschen zu treffen, die anders denken.

»Wir müssen für unseren Weg werben«, sagt dieModeratorin. In ihrem Ausblick auf das Jahr 2021 allerdings zeigt sich auch Dunja Hayali sorgenvoll und fragt: »Wo steht Europa in einem Jahr?«

Teilnehmer des Mitzvah Day 2016 in Berlin

Tikkun Olam

»Ein Licht für die Welt«

Der Mitzvah Day 2025 brachte bundesweit Gemeinden, Gruppen und Freiwillige zu mehr als 150 Projekten zusammen

 23.11.2025

München

Nicht zu überhören

Klare Botschaften und eindrucksvolle Musik: Die 39. Jüdischen Kulturtage sind eröffnet

von Esther Martel  23.11.2025

Berlin

Gegen den Strom

Wie der Ruderklub »Welle-Poseidon« in der NS-Zeit Widerstand leistete und bis heute Verbindung zu Nachfahren seiner jüdischen Mitglieder pflegt

von Alicia Rust  23.11.2025

Porträt

Glücklich über die Befreiung

Yael Front ist Dirigentin, Sängerin, Komponistin und engagierte sich für die Geiseln

von Alicia Rust  22.11.2025

Berufung

Schau mal, wer da hämmert

Sie reparieren, organisieren, helfen – und hören zu: Hausmeister von Gemeinden erzählen, warum ihre Arbeit als »gute Seelen« weit mehr ist als ein Job

von Christine Schmitt  21.11.2025

Mitzvah Day

Im Handumdrehen

Schon vor dem eigentlichen Tag der guten Taten halfen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentralrats bei der Berliner Tafel, Lebensmittel zu prüfen

von Sören Kittel  20.11.2025

Interview

»Selbst vielen Juden ist unsere Kultur unbekannt«

Ihre Familien kommen aus Marokko, Libyen, Irak und Aserbaidschan. Was beschäftigt Misrachim in Deutschland? Ein Gespräch über vergessene Vertreibungsgeschichten, sefardische Synagogen und orientalische Gewürze

von Joshua Schultheis, Mascha Malburg  20.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

Berlin

450 Einsatzkräfte schützen jüdische Einrichtungen

Zudem seien im laufenden Jahr zwei Millionen Euro in bauliche Sicherheitsleistungen für jüdische Einrichtungen investiert worden sowie 1,5 Millionen Euro in mobile Sicherheitsleistungen für jüdische Gemeindeeinrichtungen

 19.11.2025