Porträt der Woche

Von Czernowitz nach Hessen

»Ich finde es schade, dass Kinder aus gemischten Familien oft außen vor bleiben«: Anatoli Skatchkov (50) lebt in Frankfurt. Foto: Rafael Herlich

Porträt der Woche

Von Czernowitz nach Hessen

Anatoli Skatchkov ist Filmemacher und lernte von seinen Großeltern Jiddisch

von Eugen El  13.02.2018 10:12 Uhr

Ich wurde 1968 in Czernowitz geboren. Czernowitz war die am wenigsten ukrainische Stadt, vielleicht noch weniger als Kiew, Charkow oder Dnepropetrowsk. In meiner Kindheit hat in Czernowitz jeder Zweite Jiddisch gesprochen.

Meine Mutter hat in Tomsk studiert, weil es in der Ukraine für Juden sehr schwierig und kaum möglich war, für ein Hochschulstudium zugelassen zu werden. Sie hat also in Sibirien klassische Philologie studiert. Als sie schwanger wurde, kehrte sie zurück zu ihren Eltern nach Czernowitz.

Nach meiner Geburt ließ mich meine Mutter bei den Großeltern, Dvojra und Munja Knop. Bis ich drei Jahre alt war, habe ich bei ihnen gelebt. Zu Hause haben die Großeltern Jiddisch geredet. Mit mir haben sie wahrscheinlich versucht, Russisch zu sprechen, aber als meine Mutter mich abgeholt hat, konnte ich nur Jiddisch. Das war schon witzig, besonders, als sie mich im sibirischen Tomsk in den Kindergarten abgegeben hat.

Ich glaube, diese ersten drei Jahre in Czernowitz bei meinen Großeltern haben mich am meisten beeinflusst – für das ganze Leben. Ich liebe meine Großeltern immer noch sehr. Ich denke ganz oft an sie. Sie sind leider schon gestorben.

schneider Mein Großvater war Schneider. Er war in Czernowitz sehr berühmt, hat ganz viel schwarz geschneidert und immer Angst gehabt, dass er erwischt wird, weil das Privatunternehmertum in der Sowjetunion verboten war. Seinetwegen wollte ich ganz lange auch Schneider werden. Noch immer liebe ich Stoffe. Ich schaue immer, wie die Kleidung, die ich kaufe, genäht ist. Bis zur achten Klasse hat mein Großvater alles für mich genäht.

Ich habe immer gedacht: Was für ein Glück habe ich mit meinem Opa! Ich habe mir nie vorstellen können, dass er irgendwann stirbt. Als Kind dachte ich, ich würde immer so gut aussehen, weil Opa für mich so gute Sachen näht. Erst als er krank wurde, ist mir bewusst geworden, dass die Großeltern nicht ewig leben. Das war wirklich ein Schock für mich. Ich war damals in der neunten Klasse.

Nach meinem Schulabschluss 1985 habe ich in Sibirien Medizin studiert. Ich wollte mich auf Psychiatrie spezialisieren. In Tomsk waren fast alle Medizinprofessoren Juden. Die meisten kamen aus Moskau, sie waren im Zuge von Stalins Ärzteprozessen dorthin verbannt worden. Die Sommer habe ich damals in Czernowitz verbracht. Es gab einen unglaublich großen Unterschied zwischen Czernowitz und der ganzen Sowjetunion. Wir sind mit den Eltern sehr oft verreist, meine anderen Großeltern haben in einer kleinen Stadt bei Moskau gelebt. Ich habe viel gesehen, aber Czernowitz war etwas ganz anderes. Das hat mich stark beeindruckt.

nitschewoland In meiner Kindheit sind wir mit Oma mindestens einmal in der Woche frühmorgens zum Markt gegangen. Sie hat ein lebendes Huhn gekauft und sich bei einem bestimmten Fleischer angestellt. Es wurde nicht laut gesagt, aber es war ein Fleischer, der die Tiere nach jüdischen Vorschriften geschächtet hat. In der Schlange standen nur Juden, alle redeten Jiddisch.

Als ich vor fünf oder sechs Jahren, kurz bevor der Krieg zwischen der Ukraine und Russland begann, zuletzt in Czernowitz war, habe ich gehört, wie zwei Frauen miteinander Jiddisch redeten. Ich habe sie auf Jiddisch angesprochen. Die Sprache meiner Kindheit fiel mir irgendwann schwer, ich bin ins Deutsche gewechselt. Und dann sagten die Frauen: »Gut, also reden wir Deutsch.« Sie sprachen ein unglaublich schönes österreichisches Deutsch! Ihr Deutsch hatte weniger Fehler als meines, obwohl ich schon seit fast 20 Jahren in Deutschland lebte.

Nach Deutschland kam ich 1997, zuerst mit einem Stipendium als Filmemacher. Wir waren ein Jahr in Berlin. Dort erfuhren wir von der Möglichkeit, als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland einzuwandern. Wir haben schon nach weniger als einem halben Jahr das »jüdische Visum« bekommen. Zu unserer großen Überraschung stand darin, dass wir nur in Frankfurt leben dürfen. Wir waren enttäuscht. Denn wir hatten in Berlin eine große Altbauwohnung in Kreuzberg. Ein Jahr nach dem Stipendium, 1998, landeten wir also in Frankfurt. Zu Beginn waren wir sehr unglücklich. Damals war Frankfurt nicht so hip wie jetzt. Wir haben in einem Flüchtlingsheim gewohnt. Es war hart.

Ich wusste damals schon von der Filmförderung. Die Hessische Filmförderung war die kleinste ihrer Art in Deutschland. Ihre damalige Leiterin, Maria Wismeth, hatte eine wirklich große Liebe zum Film und zum Autorenkino. Sie hat mit mir gesprochen und mir empfohlen, erst einmal Geld für ein Drehbuch zu beantragen. Obwohl ich damals gar keine Kontakte hatte, habe ich eine Förderung bekommen. Ein halbes Jahr später, als das Drehbuch fertig war, erhielt ich Geld für den ersten Film, Das Nitschewoland, eine Collage aus deutschen Filmen der Zwischenkriegszeit. Die Deutschen haben in dieser Zeit mehr als 100 Filme über Russland gemacht, sie waren total besessen davon. Der Untertitel des Films lautet Russland als Unterbewusstsein der Deutschen.

interviews Dann wurden mit je zwei bis drei Jahren Abstand meine fünf Kinder geboren. Unsere älteste Tochter, Sonia, kam noch in Russland zur Welt, ein weiteres Mädchen und drei Jungs dann hier. Da meine Frau Malerin ist, suchten wir immer einen Raum, wo wir beide arbeiten konnten. Wir brauchten auch einen Ort, der sich für Ausstellungen eignete. Dann fanden wir dieses leer stehende Häuschen in einem Hinterhof in Sachsenhausen.
Wir leben hier seit 2004. Bis 2016 haben wir Ausstellungen zeitgenössischer Kunst gezeigt. Parallel schrieb ich Drehbücher und drehte Dokumentarfilme. Ich arbeite schon seit Langem mit dem Frankfurter Filmemacher Peter Rippl zusammen.

Einer meiner Lieblingsautoren ist Walter Benjamin. Er lässt mich nicht los. 2016 habe ich den Film The Storyteller. After Walter Benjamin gemacht – basierend auf Benjamins Erzähltheorie. In seinem Text erklärt Benjamin, was ein Geschichtenerzähler ist und warum er verschwindet. Meine Idee war, dass das Erzählen nicht verschwinden kann, weil es unser grundlegender Wunsch ist, Geschichten zu erzählen und Erfahrungen auszutauschen. Heute glaubt man nicht mehr an Worte.

Meinem Film lag die Idee zugrunde, dass bestimmte Künstler, Architekten und Designer Erzähler sind. Ich ha­be sie interviewt und bei der Arbeit gefilmt, etwa auf Tschukotka im Fernen Osten sowie in Indien, Spanien und New York. Der Film lief zuerst auf einem New Yorker Design- und Architekturfilmfestival, dann auf zehn weiteren Filmfestivals. Nun beginnen wir, ihn auf DVD und als Download herauszubringen.

halacha In der Jüdischen Gemeinde bin ich Mitglied. Manchmal besuche ich Veranstaltungen, aktiv in der Gemeinde bin ich aber nicht. Ich bin ein unentschiedener gläubiger Atheist. Ich habe einige Male den Egalitären Minjan besucht. Das war für mich aber nicht orthodox genug. Ich fühle mich besser beim orthodoxen Gebet. Das heißt aber nicht, dass ich viel davon verstehe und tatsächlich mitmachen kann. Ich habe nichts gegen eine Frau als Rabbinerin, und Elisa Klapheck finde ich als Persönlichkeit interessant. Aber insgesamt denke ich, wenn schon religiös, dann wirklich orthodox.

Meine Kinder versuche ich, jüdisch zu erziehen. Meine Frau ist nicht jüdisch, meine Kinder werden also nicht anerkannt als Juden. Ich finde es schade, dass in Deutschland in den Gemeinden nicht halachische Kinder aus gemischten Familien oft außen vor bleiben.

Meine älteste Tochter, Sonia, durfte mit Taglit nach Israel reisen. Sie war begeistert und hat erste jüdische Freunde außerhalb der Familie kennengelernt. Das hat sie beeinflusst. Sie hat danach ein Praktikum in einem Kunstzentrum in Tel Aviv gemacht. Sarah und Benni wollen auch mit Taglit nach Israel reisen. Wir sind gerade dabei, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen. Ich möchte Knop, den Namen meiner jüdischen Großeltern, annehmen. Sonia hat es schon gemacht. Den Vornamen möchte ich zu Nathaniel ändern. So hieß mein Urgroßvater, der in einem Ghetto in Transnistrien gestorben ist. Die meisten Juden aus Czernowitz und Bessarabien wurden dorthin deportiert.

projekt Das Thema Holocaust beschäftigt mich sehr. Mein nächstes Projekt handelt von Eva Szepesi, einer aus Ungarn stammenden Schoa-Überlebenden, die in Frankfurt lebt. Sie war im letzten Zug von Budapest nach Auschwitz. Eva hat überlebt, ihre Familie kam in Auschwitz um. 1953 ging sie nach Deutschland. Bis Anfang der 90er-Jahre erzählte sie niemandem, dass sie jüdisch ist. Sie hatte schon Enkelkinder, und niemand in ihrer Familie wusste, dass sie Juden sind.

Wir wollen Evas Geschichte aus dem Blickwinkel ihrer Enkelin erzählen, die gerade ihr Studium in Wien begonnen hat. Den Film mache ich mit Peter Rippl und Mario Morales aus Mitteln der Hessischen Filmförderung. Der Film wird, wenn alles gut geht, Anfang 2019 fertig. Was können wir erzählen, wenn die Überlebenden nicht mehr da sind? Das ist die Frage, mit der wir uns darin beschäftigen.

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