Porträt der Woche

Vielschichtig jüdisch

Leon Spanier ist Filmemacher und interpretiert Tradition modern

von Eugen El  09.08.2020 10:43 Uhr

»Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, dann mache ich das auch«: Leon Spanier (26) lebt in Frankfurt. Foto: Rafael Herlich

Leon Spanier ist Filmemacher und interpretiert Tradition modern

von Eugen El  09.08.2020 10:43 Uhr

Seit mittlerweile acht Jahren mache ich Werbe- und Dokumentarfilme für verschiedene Auftraggeber. Seit fünf Jahren lebe ich vollständig davon. Ich bin selbstständig, seit ich denken kann. Ich glaube, das ist etwas, was in der Familie liegt. Mein Vater war selbstständig. Er ist mit nichts hierhergekommen, hat als Kaufmann einen Klamottenladen geführt. Mein Bruder ist ebenso selbstständig. Wäre mein Vater angestellt gewesen, weiß ich nicht, ob ich diesen Elan hätte, mich durchzuboxen.

Geboren wurde ich 1994 im Frankfurter Heilig-Geist-Krankenhaus, nur 200 Meter von meinem heutigen Büro entfernt. Ich bin in Frankfurt aufgewachsen. Meine Familie ist 1992 nach Deutschland gekommen. Sie stammt aus Moldawien. Wer weiß, was passiert wäre, wenn meine Eltern dort geblieben wären. Ich wäre vielleicht nicht so jüdisch geworden, auch mein Bruder nicht.

Ich bin in die jüdische Grundschule gegangen. Meine Mutter hat darauf beharrt. Danach habe ich ein öffentliches Gymnasium besucht, weil ich nicht mehr in der Blase der jüdischen Welt bleiben, sondern sehen wollte, was es darüber hinaus gibt.

FILMWELT Meine Mutter fand den Wechsel nicht schlimm. Schließlich hatte ich auf der Grundschule eine jüdische Prägung mitbekommen. Ich weiß selbstverständlich auch mehr über das Judentum als meine Mutter. Sie wusste nichts davon, aber es war ihr wichtig. Mein Abitur habe ich 2013 auf einem anderen Gymnasium gemacht. Es war ein guter Wechsel, weil ich dadurch viel mehr Leute kennengelernt habe. Und ich konnte ein Praktikum beim Filmverleih 20th Century Fox in Frankfurt machen.

Dadurch war ich fasziniert von der Filmwelt. In der Abiturzeit wusste ich, dass ich Film machen möchte. Meine Eltern haben das nicht so verstanden, weil es nichts Handfestes ist, wie etwa das Mathematikstudium meines Bruders. Aber wenn ich mir etwas in den Kopf setze, dann mache ich das auch.

Ich habe den Gemeindetag 2019 in Berlin filmisch begleitet.

Nach dem Abitur wollte ich mich an der Hochschule Darmstadt für den Studiengang Motion Pictures bewerben. Ich wurde im ersten Anlauf nicht genommen. Stattdessen habe ich ein einjähriges Praktikum beim Frankfurter Filmproduktionsunternehmen »Cineteam Mediaworks« absolviert. Ich habe dort mehrere Projekte im Bereich Produktion und Schnitt gemacht.

ZWST Und da fing es mit kleinen Auftragsarbeiten für die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland an. Ich bin auf Sommer-Machanot gefahren und habe dort das Ganze filmisch festgehalten. Das war sowohl für die ZWST als auch für mich ein neuer Schritt. Es war erste Jahr, in dem Nachumi Rosenblatt mich beauftragt hat, einen Film mit Budget zu machen.

Die ZWST war mein erster Kunde. Es war eben die Community, mit der ich Kontakt habe. Es ist immer so: Mit den Menschen, mit denen du Kontakt hast, wirst du später auch arbeiten. Für den Zentralrat der Juden mache ich seit 2016 das Aftermovie zur Jewrovision. Ich habe außerdem den Gemeindetag 2019 in Berlin filmisch begleitet.

Nach meinem Praktikum bei »Cineteam Mediaworks« habe ich mich noch einmal in Darmstadt und Mainz beworben. Ich wurde von beiden Hochschulen angenommen und entschied mich für Darmstadt. Dort habe ich 2018 meinen Bachelor-Abschluss gemacht. Jetzt mache ich, auch in Darmstadt, meinen Master im Bereich »Leadership in the Creative Industries«.

Wir lernen, neue Medien auszuschöpfen, machen viel mit Virtual Reality (VR) und Augmented Reality. VR zum Beispiel ist seit zwei Jahren für den normalen Verbraucher erschwinglich. Eine VR-Brille kostet heute etwa 200 Euro. Momentan mache ich ein virtuelles Training. Wir bilden Leute aus, wie man mit einer VR-Brille eine Blinddarmoperation durchführt. Das ist natürlich nur ein Prototyp.

Ich gehe auf die Menschen zu und spreche mit ihnen. Ich frage mich, was sich hinter der Person verbirgt.

Als Filmemacher bin ich sehr auf Porträts spezialisiert. Seit 2018 habe ich ein freies Projekt, die Videoreihe »Do You Know«. Ich habe bisher über 75 Menschen in mehr als sechs Ländern porträtiert. Ich stelle Leute vor, die mir auf der Straße auffallen, die ich anspreche. Ich porträtiere aber auch Menschen, von denen ich denke, dass sie andere ansprechen wollen, sich aber nicht trauen.

Ich habe einen Freund, der für sein Leben gern liest. Er verbringt die Hälfte der Zeit in der Bibliothek. Er würde niemals in einem Café einen von Kopf bis Fuß komplett Tätowierten ansprechen. Ich mache so etwas. Ich gehe auf die Menschen zu und spreche mit ihnen. Ich frage mich, was sich hinter der Person verbirgt.

In »Do You Know« sind viele porträtierte Personen jüdisch. Es ist gleichzeitig Zufall – ich habe mit diesen Leuten Kontakt und finde sie interessant. Ich habe aber auch das Gefühl, ich bin immer noch in dieser Bubble drin. Ich versuche, sie immer wieder zu verlassen, und komme immer wieder rein, weil diese jüdische Identität mich packt.

SOFER 2017/18 habe ich ein Auslandssemester in Jerusalem gemacht. Das hat mich sehr beeinflusst. Bevor ich dort hingereist bin, war mein Ziel, einen Dokumentarfilm zu drehen, der meine jüdische Welt, mein jüdisches Verständnis nach außen bringt. Ich habe mir einen Sofer STaM ausgesucht. Er schreibt die Tora, Mesusot und die heiligen Schriften. Dass die Tora handgeschrieben wird, wissen viele Juden übrigens nicht. Das ist ein Aspekt, den ich auch jüdischen Leuten beibringen wollte.

Ich habe diesen Sofer, bevor ich überhaupt in Jerusalem war, über Facebook ausfindig gemacht. Er heißt Kalman Delmoor und stammt gebürtig aus Amerika. Wir haben uns sehr gut verstanden und sind bis heute sehr gut miteinander vernetzt, obwohl es schon einige Jahre her ist. Ich telefoniere wöchentlich mit ihm. Es ist ein zehnminütiger Dokumentarfilm entstanden.

Ich habe diesen Sofer, bevor ich überhaupt in Jerusalem war, über Facebook ausfindig gemacht.

The Scribe ist eines meiner emotionalsten, persönlichsten Werke. Es war mein Abschlussprojekt an der Kunst- und Designhochschule Bezalel. In dem Film habe ich Kalman Delmoors Arbeit porträtiert. Ich habe drei Monate mit ihm verbracht.

Das Besondere an diesem Sofer ist: Er ist ausgebildeter Toraschreiber, aber er macht Kunst aus dem Alefbet. Aus dem hebräischen Alphabet entstehen Gemälde. Beispielsweise nimmt er einen Psalm über Arieh, den Löwen, der auch auf dem Wappen Jerusalems zu sehen ist. Daraus hat er ein Gemälde geschaffen, das man auch lesen kann. Als ich das Bild gesehen habe, hat es mich sehr inspiriert. Mein jüdischer Name ist Arieh.

KLAGEMAUER Ich bin nicht sehr gläubig und auch nicht sehr religiös. Ich halte die Kaschrut nicht ein. Aber ich bin sehr traditionell. Ich will diese Tradition weitergeben: die Überlieferung, die Feiertage, das Zusammensein, Schabbat. Mit meiner Freundin laden wir am Schabbat Leute ein, essen gemeinsam, sprechen die Brachot auf die Challot und den Wein. Aber im Hintergrund läuft Alexa und spielt uns Musik. Es ist eine moderne Interpretation.

Als Bachelor-Projekt habe ich drei Porträts in Jerusalem gedreht. Ich habe eine palästinensische Sängerin, einen christlich-arabischen Tätowierer und Salomon Souza, einen jüdischen Graffiti-Künstler, porträtiert. Witzigerweise habe ich mit Salomon Souza vier Drehtage verbracht und mit den anderen nur zwei. Alle Filme sind gleich lang, sie zeigen ähnliche Interviews mit den gleichen Fragen.

Das Projekt hieß »Eyeland«. Ich habe den Namen gewählt, weil Jerusalem in meinen Augen eine Insel ist. Dort leben ganz viele Menschen. Sie leben, so wie ich das gesehen habe, in Frieden und Harmonie. Jerusalem ist meine Lieblingsstadt in Israel. Man muss sie kennenlernen, indem man sie durch die Augen eines dort Lebenden sieht und nicht durch Urlaub und einen Gang zur Klagemauer.

Jerusalem ist viel mehr als die Klagemauer.

Jerusalem ist viel mehr als das. Ich bin besonders gern in der Altstadt. Ich kenne mich dort aus wie in meiner Westentasche. Ich weiß, es gibt besonders im arabischen Teil Punkte, die gefährlich sind. Aber ich kann im arabischen, christlichen oder jüdischen Viertel herumlaufen und fühle mich überall wohl.

ENERGIE Israel ist ein Ort, an dem ich mich entfalten kann. Es ist der Mittelpunkt der Welt, wo Leute zusammenkommen, die man lange nicht gesehen hat. Es gibt eine positive Energie und Aura. Ich finde es interessant, wie viele Leute die Tradition auf ihre eigene Art und Weise weitergeben können. Israel zeigt die Vielschichtigkeit, wie man jüdisch sein und das Judentum ausleben kann.

Jetzt mache ich nebenbei meinen Master und arbeite in Vollzeit. In den nächsten zehn Jahren werde ich genauso weitermachen. Ich werde viel mehr Energie auf das Projekt »Do You Know« fokussieren, weil ich glaube, dass es eine Zukunft hat, Menschen zu porträtieren. Ich werde weiter Filme produzieren und machen – und auch schauen, welche modernen Wege es gibt, an die Sachen heranzugehen.

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