Wenn dieses Jahr der Zentralrat der Juden in Deutschland sein 75-jähriges Jubiläum feiert, dann muss auch über Werner Nachmann gesprochen werden, stand er doch länger als jeder andere an dessen Spitze. Zwischen 1969 und 1988 war er Vorsitzender des Direktoriums des Zentralrats. Als Ruhmeskapitel ging seine Amtszeit nicht in die Annalen des deutschen Judentums ein. Aber der 100. Geburtstag Nachmanns bietet Anlass, eine Bilanz seines Wirkens zu ziehen.
Werner Nachmann wurde am 12. August 1925 in eine alteingesessene badisch-jüdische Familie in Karlsruhe geboren. Der Großvater Samuel betrieb eine Lumpensortieranstalt, die der Vater Otto dann in einen äußerst erfolgreichen – wie es nun hieß – Betrieb für Rohstoffwiederverwertung ausbaute.
Otto Nachmann, dessen Bruder in Auschwitz ermordet wurde, gehörte nach seiner Rückkehr aus dem französischen Exil bereits 1945 zu den Mitbegründern der jüdischen Gemeinde Karlsruhe und war Vorsitzender des Oberrates der Israeliten Badens. In dieses Amt folgte ihm nach seinem Tod 1961 sein Sohn Werner, der als Offizier der französischen Armee heimgekehrt war und auch den väterlichen Betrieb übernahm.
Als er 1969 zum Vorsitzenden des Direktoriums des Zentralrats gewählt wurde, sollte er mit 44 Jahren eine Verjüngung dieses Gremiums einleiten. Sein Vorgänger, der angesehene Medizinprofessor Herbert Lewin, wollte im Alter von 70 Jahren nicht mehr kandidieren. Und der Berliner Gemeindevorsitzende Heinz Galinski galt vielen als zu eckig und kantig.
Nachmann dagegen war eher rund und glatt, auch wenn es um Fragen der Vergangenheitspolitik ging. Gewiss, auch er konnte mahnen und warnen. Aber er achtete darauf, es nur bei den richtigen Gelegenheiten zu tun. Wenn dies die guten Beziehungen zur politische Spitze gefährden könnte, blieb er lieber still – und verteidigte notfalls auch Politiker mit braun besprenkelter Weste.
Als der Dramatiker Rolf Hochhuth, dessen Stück Der Stellvertreter in den 60er-Jahren die Mitschuld des Papstes während der Schoa thematisiert hatte, 1978 den Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Hans Filbinger, der als NS-Marinerichter im Zweiten Weltkrieg auch Todesstrafen ausgesprochen hatte, als »furchtbaren Juristen« bezeichnete, erhielt Filbinger Schützenhilfe von Nachmann. Innerhalb des Zentralrats löste dies heftige Diskussionen aus, doch während Filbinger am Ende zurücktreten musste, blieb Nachmann ein weiteres Jahrzehnt im Amt.
Wie kam es dazu, dass Nachmann über zwei Jahrzehnte lang immer wieder an die Spitze des deutschen Judentums gewählt wurde? Welche Eigenschaften besaß er, die anderen fehlten? Es zeichneten ihn weder Charisma noch außergewöhnliche rhetorische Begabung aus. Doch er hatte einen unbestreitbaren politischen Instinkt, eine joviale Persönlichkeit und war ein »Macher«, der es verstand, Bündnisse zu schmieden und Positionen durchzusetzen. Das erinnerte durchaus an Helmut Kohl, mit dem ihn nicht nur das Parteibuch verband.
Nachmann genoss bei den in Deutschland lebenden Juden, die größtenteils aus Osteuropa stammten, Vertrauen, da sie sich von ihm einerseits direkten Zugang zu den Behörden und andererseits Redlichkeit in administrativen und finanziellen Angelegenheiten versprachen. Die erste Erwartungshaltung erfüllte Nachmann voll und ganz – die letzte eher weniger. Aber darüber später mehr.
Nachmann wusste, wie man mit deutschen Politikern umging, begleitete sie auf Reisen nach Israel und vertrat gegenüber den Juden im Ausland die Interessen der Bundesregierung. So etwa warb er nicht nur als deutscher Makkabi-Vorsitzender, sondern auch als Mitglied des Beirats des Organisationskomitees der Olympischen Spiele von 1972 in der jüdischen Welt für München als Austragungsort.
Nach dem Olympia-Attentat auf die israelischen Athleten versuchte er, die Wogen der Erregung gegen das Versagen deutscher Einsatzkräfte in Israel zu glätten, und versprach der Bundesregierung, sich allen Versuchen zu widersetzen, die tragischen Ereignisse »zum Abreagieren antideutscher Ressentiments zu benutzen«.
Nachmann spiegelte auch die Tragik des deutschen Nachkriegsjudentums wider. Es war eine Gemeinschaft, der zumindest im institutionellen Rahmen intellektuelle und religiöse Führungspersonen fast vollständig fehlten. Vergessen wir nicht: In den 70er- und 80er-Jahren lebten gerade einmal 30.000 Juden in Deutschland – das entspricht etwa der Einwohnerzahl von Kaufbeuren oder Buxtehude. Hier war Führungspersonal nicht wie Sand am Meer gestreut.
Henryk M. Broder brachte es in seiner eigenen zynischen Art zum Ausdruck, wenn er über Nachmann noch während dessen Amtszeit schrieb: Wäre das deutsche Judentum nicht weitgehend ausgelöscht worden, »dann wäre er in einem jüdischen Kegel- oder Gesangsverein stellvertretender Protokollführer geworden«.
Dabei hatte Nachmann in zwei Jahrzehnten an der Spitze des Zentralrats selbstverständlich auch manches erreicht. Dazu gehörte die Etablierung enger Bande zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat inklusive der finanziellen Förderung jüdischen Lebens. Unter seiner Ägide wurde 1979 in Heidelberg mit der Hochschule für Jüdische Studien die erste Ausbildungsstätte für jüdische Religionslehrer im Nachkriegsdeutschland gegründet, die nach dem Willen Nachmanns und des badischen Landesrabbiners Nathan Peter Levinson später auch Rabbiner hätte ausbilden sollen.
Doch in Erinnerung wird Nachmann wohl vor allem dafür bleiben, was nach seinem Tod 1988 aufgedeckt wurde: dass er über mehrere Jahre hinweg insgesamt etwa 30 Millionen D-Mark aus Zinsen von Wiedergutmachungsgeldern veruntreute und teilweise in seinen eigenen maroden Betrieb ableitete. Selbst wenn sein Nachfolger Heinz Galinski sich sofort um eine völlige Aufklärung bemühte – auch 37 Jahre nach Nachmanns Tod bleibt noch manches im Dunkeln. Der 100. Geburtstag Nachmanns wäre ein guter Anlass, die Geschichte dieser Affäre vollständig aufzuklären.
Der Autor ist Historiker und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München.