Israel

Sorgen und Ängste

Noam Petri (19), Berlin, Student
Die israe­lische Gesellschaft ist gespalten – und das nicht erst seit der neuen Regierung. Unter dem Deckmantel der Demokratisierung versucht die aktuelle Regierung, ihre »Justizreform« auf Biegen und Brechen durchzusetzen. Dass das aktuelle Justizsystem reformbedürftig ist, bestreitet die Opposition nicht. Doch wenn die »Reform« von Netanjahus Regierung zu Ende gedacht wird, so wird die Gewaltenteilung mit der »override clause« faktisch abgeschafft. Aus diesem Grund wird auf den Straßen demonstriert, in der Wirtschaft gestreikt, der Reservedienst in der Armee zunehmend boykottiert und von Experten gewarnt. Hohe (ehemalige) Sicherheitsbeamte warnen Netanjahu vor den Risiken für die Sicherheit des Staates Israel, da er den Zusammenhalt der Gesellschaft zunehmend zerstört. Meine Hoffnungen liegen auf Präsident Herzog, der das Land durch einen Kompromiss vereinen will. Theodor Herzl brachte es auf den Punkt: »Wir sind ein Volk, ein Volk.«

Elie Levy (72), Hamburg, Schauspieler
Ich bin gegen die Justizreform. Benjamin Netanjahu will damit nur seinen Korruptions-Prozess verhindern, denn er muss mit einer Gefängnisstrafe rechnen. Er unternimmt alles Mögliche, damit das nicht geschieht. Ihm wurde ein Deal angeboten, dass die Anklage gestrichen wird, wenn er die Politik endgültig verlässt. Den hat er nicht angenommen, denn er will unbedingt Premierminister Israels bleiben und politische Macht ausüben. Dafür hat er sogar den Rechts-Religiösen, den streng orthodoxen Parteien, alles gegeben, was sie wollten, und sie in die Regierung gelassen. Wir Israelis werden weiter für unsere Demokratie und gegen die Rechts-Regierung demonstrieren, und irgendwann wird es in Netanjahus Likud-Partei »Klick« machen. Sie werden ihn stürzen und eventuell eine neue Partei gründen, vielleicht mit Verteidigungsminister Yoav Gallant an der Spitze, den Netanjahu ja schon entlassen wollte, weil er sagt, was er denkt.

Sagí Amir Gross (38), Künstlerischer Leiter des WDTanztheaters NRW
Die Reise meiner Familie nach Israel wurde von der Notwendigkeit angetrieben, der Verfolgung zu entkommen. Meine rumänisch-jüdischen Großeltern flohen vor den Nazis. Ebenso flüchtete die andere Hälfte, die jemenitischen Juden. Ich bin in Tel Aviv aufgewachsen und habe die Hälfte meines Lebens in Deutschland verbracht, als queere Künstlerin, Choreografin, Theater- und Filmregisseurin. Die Akzeptanz von Inklusion und Kollektivität hat mein Dasein bereichert und mir Türen zu vielfältigen Perspektiven und Erfahrungen jenseits meiner eigenen geöffnet. Die heutige Situation in meiner geliebten Heimat Israel bereitet Sorge, da ihre demokratischen Werte in Gefahr sind. Der tägliche extreme Kampf der israelischen Bevölkerung um grundlegende Menschenrechte erfüllt mich mit dem Wunsch nach einer inklusiven und positiv transformierten Gesellschaft. In diesem herausfordernden Kapitel der israelischen Geschichte für Gerechtigkeit setze ich mein Vertrauen in die transformative Kraft der Kunst. Dichtung, Tanz, Theater, Musik und Literatur können über Wut erheben und Einheit und Verständnis fördern. Ich wünsche mir, dass Menschen sich vereinen und einander aufrichtig zuhören.

Ruth Röcher (69), Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz
Ich bin Israelin und höre – immer wenn es mir die Zeit erlaubt – israelischen Rundfunk, um mich zu informieren. Ebenso bekomme ich über meine Freunde und Angehörigen Infos ohne Ende. Doch nun ist Stillstand, nun ist die Katastrophe da, alle sind enttäuscht, verzweifelt, am Boden zerstört. Alle waren 30 Wochen lang bei den Protesten dabei und hofften zusammen, dass die Umsetzung verhindert werden könnte. Mir fehlen die Worte des Trostes. Ich kenne niemanden, der der Reform zustimmt, und ich bin besorgt über die Spaltung der Gesellschaft. Ende August fliege ich nach Israel und mache mir Gedanken, was für eine Gesellschaft ich vorfinden werde. Wie hält man die Situation bis zur nächsten Wahl aus?, frage ich mich. Mit etlichen Freunden bin ich seit unserer gemeinsamen Schulzeit befreundet, und nun denken wir an die Zukunft unserer Kinder, Enkelkinder. In was für einem Land werden sie aufwachsen?

Mike Khunger (30), Jurist, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Münster
Die neue israelische Regierung läuft Amok, um Gesetze zu verabschieden, die die Unabhängigkeit und insbesondere die Kompetenz der Justiz schwächen, die Regierungsmacht einzuschränken und die Rechte von Minderheiten zu schützen. Insbesondere beunruhigt mich die Spaltung meines Heimatlandes. Solange ein Teil der Bevölkerung diese Revolution als eine Rache für soziale Benachteiligung in den 70er- und 80er-Jahren betrachtet, kann das Volk einvernehmlich keinen Konsens finden. Ich hoffe, dass das Volk versteht, dass es nicht mehr darum geht, wie viele links oder rechts wählen. Es geht vielmehr darum, dass sich das Land auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden stützt. Es soll all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen, so wie es auch in der Unabhängigkeitserklärung steht.

Elisabeth Schlesinger (64), Oldenburg, Ärztin
Die Demokratie in Israel sehe ich nun als sehr gefährdet an, da die Kontroll­instanz beschnitten ist. Die Entwicklung könnte ähnlich wie die in Ungarn und in Polen verlaufen. Es gibt einen heftigen Rechtsruck in Israel – was mir nicht gefällt. Dass nun die Kontrollinstanz durch ein Gericht fehlt, beunruhigt mich.

Jacob Horowitz (23), Düsseldorf, Humanmedizin-Student
Israel hat eine Unabhängigkeitserklärung, jedoch bis heute keine Verfassung. Nach vielen Diskussionen der Knesset in den 50er-Jahren entschied man sich für das britische Modell. Ben Gurion entschied sich hierfür, da in seinen Augen eine Verfassung die Einheit des Landes zwischen säkularen und religiösen Gesellschaftsanteilen stören könnte. Ein Dreivierteljahrhundert später ist die Einheit gestörter denn je. Die Justizreform spaltet die israelische Gesellschaft zutiefst. Mehrere Tausende Bürgerinnen und Bürger gehen in Israel auf die Straße und demonstrieren für oder gegen die Reform. Für viele Juden in der Diaspora ist die Situation äußerst besorgniserregend. Israel ist der potenzielle Zufluchtsort und ein wichtiger Teil der jüdischen Identität. Man sollte in den jüdischen Gemeinden in Deutschland offen über dieses Thema diskutieren können, um ein Gehör für die Sorgen von Gemeindemitgliedern zu bekommen und eine Diskussionsplattform für die diversen Meinungen der jüdischen Gemeinschaft zu schaffen. Die Diaspora muss sich auch für einen Kompromiss zwischen allen Parteien einsetzen, zur Sicherung des Fortbestandes des jüdischen Staates. Wie es im Talmud geschrieben steht: »Ganz Israel trägt Verantwortung füreinander.«

Zusammengestellt von Heike Linde-Lembke, Katrin Richter und Christine Schmitt (Fotos: Kay Michalak, André Koch, Ilja Kagan, TR, Rolf Walter, Sabina Paries, privat)

Buchvorstellung

Sprache, Fleiß und eine deutsche Geschichte

Mihail Groys sprach im Café »Nash« im Münchener Stadtmuseum über seine persönlichen Erfahrungen in der neuen Heimat

von Nora Niemann  20.10.2025

Chemnitz

Erinnerungen an Justin Sonder

Neben der Bronzeplastik für den Schoa-Überlebenden informiert nun eine Stele über das Leben des Zeitzeugen

 19.10.2025

Porträt der Woche

Leben mit allen Sinnen

Susanne Jakubowski war Architektin, liebt Tanz und die mediterrane Küche

von Brigitte Jähnigen  19.10.2025

Miteinander

Helfen aus Leidenschaft

Ein Ehrenamt kann glücklich machen – andere und einen selbst. Menschen, die sich freiwillig engagieren, erzählen, warum das so ist und was sie auf die Beine stellen

von Christine Schmitt  19.10.2025

Architektur

Wundervolles Mosaik

In seinem neuen Buch porträtiert Alex Jacobowitz 100 Synagogen in Deutschland. Ein Auszug

von Alex Jacobowitz  17.10.2025

Nova Exhibition

Re’im, 6 Uhr 29

Am 7. Oktober 2023 feierten junge Menschen das Leben. Dann überfielen Hamas-Terroristen das Festival im Süden Israels. Eine Ausstellung in Berlin-Tempelhof zeigt den Horror

von Sören Kittel  17.10.2025

Meinung

Entfremdete Heimat

Die antisemitischen Zwischenfälle auf deutschen Straßen sind alarmierend. Das hat auch mit der oftmals dämonisierenden Berichterstattung über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas zu tun

von Philipp Peyman Engel  16.10.2025

Erinnerung

Gedenken an erste Deportationen aus Berlin am »Gleis 17«

Deborah Hartmann, Direktorin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, warnte mit Blick auf das Erstarken der AfD und wachsenden Antisemitismus vor einer brüchigen Erinnerungskultur

 16.10.2025

Bonn

Hunderte Menschen besuchen Laubhüttenfest

Der Vorsitzende der Synagogen-Gemeinde in Bonn, Jakov Barasch, forderte mehr Solidarität. Seit dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hätten sich hierzulande immer mehr Jüdinnen und Juden aus Angst vor Übergriffen ins Private zurückgezogen

 13.10.2025