Porträt der Woche

Physiker am Krankenbett

Promoviert zurzeit in Köln: Boris Lachtermann (29) in der Uniklinik Foto: Alexander Stein

Das Studium hat meine Art zu denken geprägt. In der Physik versucht man, Probleme zu lösen, das überträgt sich aufs Leben. Da sieht man manche Dinge anders. Und man hat eine eigene Sprache. Seit vier Jahren bin ich Physiker. Nun steht meine Promotion am Kölner Uniklinikum an.

Meine Jugend wurde von jüdischen Ferienfahrten geprägt – später, während des Studiums, fuhr ich als Betreuer mit. Dazwischen liegt mein erster Besuch in Israel bei russischen Verwandten. Ihre Wohnungseinrichtung katapultierte mich in die Sowjetunion des Jahres 1990, das Vorjahr meiner Ausreise. Als Siebenjähriger hatte ich Moldawien in Richtung Mainz verlassen, wo ich später dann auch studierte.

Taglit Gegen Ende des Studiums spürte ich, dass mir etwas fehlte – vielleicht waren es Prüfungsängste, die das auslösten. Erst flüchtete ich mich in Aushilfsjobs, dann ging ich mit dem Programm »Taglit« nach Israel. Die Organisatoren des Unterprogramms »Career Israel« wussten nicht, wohin sie mich als Naturwissenschaftler stecken sollten. Und so schlug ich das Kinderhospital »Dana« in Tel Aviv vor. In der dortigen Krebsstation spielte ich mit den jungen Patienten – obwohl ich gern Teil des Untergeschosses gewesen wäre, dem Arbeitsbereich der Physiker.

Es war eine sehr israelische Erfahrung: Keiner wusste, was und wohin, aber wir haben sofort losgelegt. Die Krankenschwestern machten sich indes Gedanken, wie ich doch noch in mein Fachgebiet käme. Über berühmte Professoren vielleicht?

Als sich überraschend die Chance bot, in den Keller der Wissenschaft zu wechseln, zog ich es vor, doch bei den Kindern zu bleiben. Der Ernst des Lebens käme noch früh genug, dachte ich, und mit den kleinen Patienten zu spielen, war super. Es gab Knete und viel Spielzeug, hin und wieder schauten Soldaten und Clowns vorbei, um die Kinder zu unterhalten.

kranke Weil die Behandlung dort so modern war, kamen die Kranken zum Teil von weit her. Während meiner Zeit dort trafen auch Kinder aus Gaza, dem Westjordanland und der Ukraine ein. Ausgerechnet dieser Ort voller Krankheit zeigte, dass die Welt funktionieren könnte: Zwischen den Eltern gab es so gut wie keine Skepsis – das gemeinsame Leid verband. Und obwohl sie Krebs hatten, waren es oft die Kinder, die ihre Eltern psychisch aufbauten. Ich blieb fünf Monate dort.

Nach diesem Aufenthalt wollte ich mir ein oder zwei Jahre Zeit nehmen, um in Deutschland die Start-up-Welt kennenzulernen. Ich beteiligte mich an Projekten, die Audioguide-Apps für Städtereisen entwickelten. Öffentliche Gelder für diesen Bereich locker zu machen, war sehr mühsam. »Was soll das mit der App?«, fragte einmal ein städtischer Beamter mit einem Mobiltelefon aus der letzten Epoche. Er war leider der Entscheidungsträger.

start-ups Es gibt zwei Motive, Start-ups ins Leben zu rufen: die Welt zu verändern und Geld zu machen. Bei mir war es wohl eine Mischung. Das Wissen, dass die Wenigsten mit ihrem Unternehmen reich werden, hat mich nicht abgehalten. Immerhin arbeitet man mit spannenden Leuten zusammen und hat eine gute Zeit.

Irgendwann aber spürte ich trotz des Spaßes: Das ist nicht das Leben, das ich mir vorstelle. Und so wandte ich mich allmählich der Medizinphysik zu. Ich erfuhr von einer Pille, die mit Kamera und Lämpchen ausgestattet ist und eine Darmspiegelung ersetzen kann. Fasziniert von den Möglichkeiten moderner Technik, wählte ich die Strahlenmedizin als mein Gebiet.

Heute beschäftige ich mich mit der Brachy-Therapie, sie greift ins kranke Gewebe ein. Mittels Katheter werden durch einen Roboter kleine radioaktive Kugeln, sogenannte Seeds, in die Mitte des Tumors gesetzt, um ihn von innen zu zerstören. Die Seeds beinhalten unterschiedlich stark strahlende Elemente. Im Gehirn müssen sie zuweilen auf wirre dreidimensionale Krebsgeschwüre wirken – und die benachbarten gesunden Zellen dabei schonen. Meine Aufgabe ist es, die notwendige Radioaktivität zu berechnen.

An der Uniklinik möchte ich mich neben der Promotion als Medizinphysik-Experte an der Planung von Therapien beteiligen. Meine theoretische Ausbildung ist inzwischen bereits abgeschlossen.

Jeschiwa Dass ich nach Köln gezogen bin, lag auch an der großen jüdischen Gemeinde. In der Jeschiwa habe ich gelernt, meine Lebensweise zu reflektieren. Dass es mich einmal in eine Talmudschule verschlagen sollte, war nicht vorherzusehen. Im moldawischen Kindergarten sang ich noch Lieder über Lenin und begeisterte mich für griechische Mythologie. Die Erzählungen aus dem Mund jüdischer Gelehrter waren für mich lediglich weitere interessante Märchen.

Allerdings stellte mein Vater den Fernseher nie lauter, wenn etwas zu Odysseus kam – wohl aber bei allem, was jüdisch war. Und so wuchs mit den Jahren meine Neugier. Ich wollte wissen, was der Kern des Judentums ist. Das aber musste außerhalb der Schule geschehen. In Rheinland-Pfalz war der jüdische Religionsunterricht extern und wurde von einem Religionslehrer der Gemeinde erteilt.

Modern orthodox Ich bin weder russisch noch deutsch. Ich fühle mich als Jude – allerdings bin ich dankbar, wenn das manchmal keine Rolle spielt. Mich fasziniert die moderne Orthodoxie. Ich betrachte sie als eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben unter Berücksichtigung der jüdischen Gesetze.

Vor einiger Zeit haben mein Freund Alexander Drehmann und ich das Projekt »Traces« ins Leben gerufen: Wir organisieren Seminare für ein modernes orthodoxes Leben in einem demokratischen Staat. Religion ist keineswegs veraltet und durchaus damit kombinierbar. Die drei bisherigen Veranstaltungen wurden über das Nevatim-Programm der Münchner Janusz-Korczak-Akademie und der Jewish Agency finanziert. Es fördert jüdisches Leben in Deutschland und hilft uns hoffentlich auch in diesem Jahr noch einmal. Im April könnte der nächste Lehrgang stattfinden. Auch eine Reise nach Israel ist vorgesehen.

urknalltheorie Bei den vergangenen Wochenendseminaren in Mainz, Dortmund und Leipzig trat einmal die Wissenschaft mit ihrer Urknalltheorie gegen die Schöpfungsgeschichte an. Das andere Mal wurden Götzen definiert, und wir fragten: Zählt der Staat Israel dazu? Zuletzt in Leipzig ging es um Melodien des Judentums. Wir wollen Ereignisse organisieren, die niemanden ausschließen. Anfangs hatten zum Beispiel zwei Jeschiwa-Studenten Sorge, die Physik könnte ihr Weltbild untergraben, und von anderer Seite gab es gegenteilige Befürchtungen. Es geht uns aber nicht darum, eines dieser Konzepte zu ersetzen, sondern zu erkennen: Wo sind sie offen?

Die meisten Juden in Deutschland leben liberal, wollen aber eine orthodoxe Gemeinde und einen orthodoxen Rabbiner. Ich denke, wir wollen ein Teil Deutschlands sein und unseren jüdischen Charakter bewahren. Wir wollen jüdisch sein, obwohl wir zum Teil nur wenig Jüdisches von unseren Eltern mitbekommen haben. Es gibt keinen Mosche Mustermann. Aber: Was ist ein deutscher Jude heutzutage?

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