Vor einigen Monaten waren wir in Mailand auf der Pelzmesse. Mit »wir« meine ich meinen Mann Ernst und mich. Gemeinsam betreiben wir ein Geschäft für Pelze in Frankfurt am Main. »Pelze am Dornbusch« wurde 1971 von meinen Eltern Andor und Eva Szepesi gegründet. 1956 sind sie von Ungarn nach Deutschland gekommen, wo ich 1964 geboren wurde.
Einmal im Jahr informieren wir uns in Mailand, was die neuesten Trends betrifft. Wir sehen uns Modelle an, halten Ausschau nach interessanten Futterstoffen und so weiter. Die Tage in dieser Stadt sind immer sehr inspirierend für uns. Der italienische Lebensstil ist schon anders als in Deutschland. Nach unserer Rückkehr in Frankfurt können wir unseren Kunden dann genau erklären, was gerade angesagt ist, und manche der Ideen für sie umsetzen.
Wir arbeiten sehr verantwortungsvoll in unserem Handwerk
Sicher gab und gibt es Kritiker, was unsere Branchen betrifft. Aber wenn es um das Thema Tierwohl geht, kann ich nur sagen, dass wir sehr verantwortungsvoll in unserem Handwerk arbeiten. Wir kennen unsere Hersteller und Lieferanten und wissen ganz genau, wo alles herkommt und wie gegerbt wurde. Was wir machen, ist das genaue Gegenteil von der sogenannten »Fast Fashion«. Denn ein Pelz kann mehrere Generationen halten. Deshalb kommen inzwischen auch viele junge Leute zu uns. Sie wollen etwas Wertiges, was möglichst lange hält. Wir arbeiten viel nach Maß. Jedes Produkt ist eine Einzelanfertigung. Ein großer Teil unserer Aufträge betrifft die Umarbeitung. Früher hat meine Mutter noch mit in der Werkstatt gearbeitet, sie hat Futtertaschen genäht und mit Verzierungen versehen.
Als ich auf die Welt kam, war meine große Schwester Judith, die in Ungarn geboren wurde, bereits zwölf Jahre alt. Als Kind hat sie sich in Deutschland immer sehr allein gefühlt. Denn es gab weder Großeltern, Tanten oder Onkel. Sie waren ja – mütterlicher- wie väterlicherseits – während der Schoa ermordet worden. Deshalb hat sie sich sehnlichst ein Geschwisterchen gewünscht. Judith war wie eine zweite Mutter für mich und hat mich überallhin mitgenommen. Unterdessen mussten meine Eltern viel arbeiten.
Zu Hause haben wir Ungarisch gesprochen. Erst im Kindergarten habe ich Deutsch gelernt. Im Gegensatz zu meiner Schwester, die mit neun Jahren erfahren hat, dass sie Jüdin ist, gab es zu meiner Zeit bereits einen jüdischen Kindergarten und eine jüdische Grundschule in Frankfurt, dort bin ich in einem geschützten Raum aufgewachsen.
In der Grundschulzeit kamen viele der jüdischen Kinder aus Polen. Die meisten gehörten der »Zweiten Generation« an, so wie ich. Dass bei unserer Schule immer die Polizei vor der Tür stand, erschien mir damals vollkommen normal. Polizeimeister Berg hat sogar in mein Poesiealbum geschrieben.
Die Nummer auf dem Arm meiner Mutter war immer präsent. Darüber gesprochen wurde nie.
Nach der 4. Klasse kam ich auf eine nichtjüdische deutsche Schule. Dort bin ich ganz offen mit meiner Herkunft umgegangen. Ich habe nie versteckt, dass ich Jüdin bin. Mein Selbstwertgefühl war durch die Grundschule gestärkt. Am Gymnasium gab es auch nie Probleme mit meinen Mitschülern. Die anderen aus meiner Schule sind gern zu uns nach Hause gekommen. Nur als sie einmal nichtsahnend »Gib Gas« gerufen haben, war ich regelrecht erschrocken. Wie ein Exot habe ich mich aber nie gefühlt. Wenn ich bei anderen zu Hause war, habe ich eine Art Tunnelblick entwickelt. Oft hingen nämlich Familienfotos an den Wänden, und zwar von den Großvätern in Uniformen mit SS-Zeichen. Ich habe mich bemüht, nicht hinzuschauen.
In meiner Familie gab es eine Schwere, die spürbar war
In meiner Familie gab es eine Schwere, die spürbar war. Zu den Feiertagen hat man der toten Verwandten gedacht. Auch die Nummer auf dem Arm meiner Mutter war immer präsent. Dennoch haben wir nie darüber gesprochen. Bis vor Kurzem konnte ich sie mir nicht einmal merken. Ein Teil meiner Kindheit und Jugend hat innerhalb der jüdischen Gemeinde stattgefunden. Meist bin ich in den Ferien mit der Jugendgruppe auf Machane gefahren. Dort waren fast alle »Zweite Generation«, wir haben das Gleiche empfunden, darüber gesprochen wurde aber nie. Natürlich haben wir uns damals viel mit der PLO und mit dem Thema Antisemitismus beschäftigt, nie hingegen mit der eigenen Familiengeschichte. Später bin ich als Jugendgruppenleiterin, als Madricha, mitgefahren. Ich war auch im Zentralrat der Juden aktiv, diese Freundschaften halten bis heute, das ist ja das Schöne.
Ursprünglich wollte ich nach dem Abitur Modedesign studieren und nach Kanada gehen. Doch dann ist mein Vater schwer erkrankt. Er riet mir zunächst zu einer Lehre. Über zehn Jahre musste er immer wieder ins Krankenhaus. So kam es, dass ich nach Abschluss meiner Lehre relativ schnell ins Geschäft geworfen wurde. Es hat mir aber großen Spaß gemacht.
Für die erste Anprobe hat mich mein Vater noch aus dem Krankenhaus heraus beraten. Er hat mir genau erklärt, wie ich das machen soll. Es war spürbar, wie sehr er sich über meine Berufswahl gefreut hat. Damals arbeitete meine Mutter – als ausgebildete Schneiderin – noch mit. Meine Meisterprüfung habe ich auch bald gemacht und 1990 schließlich das Geschäft übernommen. Da war ich 26 Jahre alt. 1993 ist mein Vater gestorben.
Mein Mann ist ebenfalls Kürschner, und wir saßen bereits in der Berufsschule zusammen. Er hatte zunächst ein anderes Standbein, war viel in Griechenland und in Russland unterwegs und führte nebenher noch einen Laden für Socken. Wir hatten uns im Alter von 19 Jahren kennengelernt und waren zehn Jahre zusammen, als mehrere Schicksalsschläge in seiner Familie hintereinander erfolgten.
Jetzt haben wir schon so viel erlebt, da können wir auch heiraten
1995 sagten wir uns: Jetzt haben wir schon so viel erlebt, da können wir auch heiraten. Zwei Jahre später kam unsere Tochter Selina zur Welt. Aus praktischen Gründen entschieden wir uns, das Geschäft zusammen zu führen. Diese Entscheidung haben wir nie bereut. Als Paar zusammenzuarbeiten hat – gerade in einem Familienbetrieb – große Vorteile. Unser Sohn Leroy wurde 2000 geboren. Er hat später seine Bachelorarbeit in Psychologie über die »Zweite Generation« geschrieben. Anschließend drehte er einen Film: Drei Frauen, drei Generationen: Anders sein – jüdisch sein handelt von meiner Mutter, meiner Tochter und mir. Es geht um unser Trauma, das sich über mehrere Generationen zieht.
Meine Kinder sind beide jüdisch aufgewachsen und waren bis zur 9. Klasse an der jüdischen Schule. Da mein Mann nicht jüdisch ist, halten wir es an den Feiertagen so, dass wir an Weihnachten bei meiner Schwiegermutter sind, die jüdischen Feiertage hingegen werden bei uns gefeiert. Somit hatten die Kinder immer beides. Neben meinem Beruf habe ich mich zeitlebens ehrenamtlich engagiert, zum Beispiel bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (WIZO), wo wir Modeschauen organisierten. Man könnte sagen, in meinem Leben lief alles gut. Doch im Alter von 40 Jahren bekam ich die erste Panikattacke beim Autofahren, da waren die Kinder noch klein.
Nach einem halben Jahr passierte es wieder. Ich brach zusammen und merkte, dass ich etwas unternehmen musste. Während meiner Therapie stellte sich heraus, dass ich quasi durch Auschwitz gegangen bin. Für eine längere Zeit habe ich alles, was bislang nur in meinem Unterbewusstsein war, aufgearbeitet. Schon als Kind bin ich oft einfach ohnmächtig geworden und wusste nie, warum. Ich konnte auch kein Blut sehen und keine Spritzen. Später habe ich erfahren, dass meiner Mutter als Kind in Auschwitz ohne Betäubung Furunkeln herausgeschnitten wurden, wobei sie ohnmächtig geworden war.
Wann immer möglich, begleite ich meine Mutter zu Veranstaltungen
Heute unterstütze ich meine Mutter sehr, ich begleite sie – wann immer möglich – zu Veranstaltungen. Mein Mann hilft uns in unserem Engagement. Wir beschützen meine Mutter. Als viel gefragte Zeitzeugin besucht sie Schulen, aber wir möchten sie auch schonen. Sie soll nur machen, was sie wirklich möchte. Natürlich ist es anstrengend für sie. Aber die Gespräche mit den jungen Menschen geben ihr – und auch uns – sehr viel.
Ich möchte dazu beitragen, dass es meinen Kindern und ihrer Generation auch in Zukunft noch gut geht. Meine Tochter hat vor drei Jahren Alija gemacht. Sie ist glücklich in Israel und wird bald heiraten. Ehrlich gesagt, sorgt sie sich mehr um uns, als um sich selbst. In Israel kann sie Luft holen, dort muss sie sich nicht verstecken. Ich kann das gut verstehen, ich fühle mich in Israel auch immer sehr wohl. Aber meine Existenz habe ich hier in Deutschland.
Aufgezeichnet von Alicia Rust