Berlin

Pankower Schicksale

Ein Satz hat sich in Leslie Brents Gedächtnis geradezu eingebrannt: »Das ist ein Waisenhaus. Die Kinder haben Angst. Verlassen Sie leise das Gebäude!« Die Worte stammen von Kurt Crohn, dem einstigen Leiter des 1913 in der Berliner Straße 120-121 in Berlin-Pankow eröffneten Jüdischen Waisenhauses. Er sprach sie gegenüber einem Mob jugendlicher SA-Männer, die das Haus in der Pogromnacht am 9. November 1938 stürmen wollten.

»Die jungen SA-Leute müssen von der Autorität, die Crohn in diesem Moment ausstrahlte, derart beeindruckt gewesen sein, dass sie ihre Knüppel fallen ließen und auf dem Absatz kehrtmachten. Uns Kindern und dem Haus ist in jener schicksalshaften Nacht nichts passiert«, erinnert sich Brent.

ehrengast Der 92-Jährige, am 5. Juli 1925 als Lothar Baruch in eine jüdische Familie im ostpreußischen Köslin geboren, hat zwei Jahre als Zögling in dem Waisenhaus verbracht, ehe er im Winter 1938 mit einem der ersten Kindertransporte nach Großbritannien geschickt wurde. Brent selbst war keine Waise, aber von seinen Eltern ins ferne Berlin gebracht worden, um der zunehmenden antisemitischen Stimmungsmache in seinem Heimatort zu entkommen. Dass er als einer von nur sieben Jungen aus dem Waisenhaus für den Kindertransport ausgewählt wurde, war ein glücklicher Zufall. Seine Eltern und seine Schwester wurden von den Nationalsozialisten im Oktober 1942 nach Riga verschleppt und dort ermordet.

Ende April war Brent, der in England als Immunologe und Zoologe Karriere machte, eigens aus London in das Gebäude des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses nach Pankow gekommen. Die Premiere des Theaterstücks Opdakh, in dem die Berliner Theatergruppe »Ohne festen Wohnsitz« (OfW) die wechselvolle Geschichte des Hauses und seiner einstigen Nutzer erforscht, wollte er nicht verpassen.

Dass Crohns mutiger Ausspruch und seine eigene Lebensgeschichte wichtige Rollen in dem Stück einnehmen, ist für Brent eine Genugtuung. »Ich fühle mich sehr geehrt. Es sind die Menschen und Initiativen wie dieses Theaterstück, die mich mit Berlin und Deutschland wieder versöhnt haben«, sagt Brent, der als Ehrengast zu der Uraufführung geladen worden war.

gebetssaal In Opdakh nehmen vier junge Schauspieler den Zuschauer mit auf eine szenische Zeitreise durch die Geschichte des ehemaligen Waisenhauses. Vier Forscher nehmen mithilfe modernster technischer Gerätschaften den Dialog mit dem Gebäude auf und hören, was es zu erzählen hat vom letzten Jahrhundert, in dem es von der Gesellschaft ausgegrenzten Menschen stets ein Obdach bieten konnte.

Das Theaterstück arbeitet dabei mit Elementen des Aktionstheaters, die Zuschauer geraten mitten in das eigentliche Geschehen hinein. Der größte Teil der szenischen Lesung spielt sich im ehemaligen Gebetssaal des Jüdischen Waisenhauses ab. Dabei wechseln die Zeitebenen von den 30er-Jahren bis in die Nachkriegszeit.

In der DDR diente das Haus zuerst als polnische, später als kubanische Botschaft und war für die Öffentlichkeit unzugänglich. Nichts erinnerte in jenen Jahren an das frühere Waisenhaus. Erst nach 1989 beschäftigten sich Historiker und Zivilgesellschaft wieder eingehender mit der Geschichte. 2000 starteten die Restaurierungsarbeiten; ein gutes Jahr später konnte das Haus in neuem Glanz eingeweiht werden. Seither beherbergt es die Janusz-Korczak-Bibliothek und dient als pädagogischer Veranstaltungsort.

idee Die Schauspieler des Ensembles spielen in all diesen verschiedenen Zeitebenen und nehmen dabei die Identitäten unterschiedlichster Personen an, von denen nur ein Teil jüdischer Herkunft ist. Doch trotz all der unterschiedlichen Kontexte und historischen Ereignisse in dieser Zeitreise von immerhin rund 70 Jahren kommt die Handlung immer wieder auf die Zeit des Hauses während der NS-Diktatur zurück. Dabei wird deutlich, dass nur wenige Kinder und Jugendliche, die hier zeitweise Schutz fanden, auch überlebten.

»Die Räumlichkeiten des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses haben uns nicht mehr losgelassen. Wir wollten seine Geschichte und die vielen Schicksale, die sich im Lauf der Jahre hier abgespielt haben, näher erkunden«, sagt der Schauspieler Philipp Urrutia, der für Text und Regie von Opdakh verantwortlich ist. Die Idee für das Stück kam dem 31-jährigen Dramaturgen, als er und seine Theatergruppe für ein anderes Stück in dem Gebäude probten.

fokus »Neben dem Umgang mit der Vergangenheit in der Nachkriegszeit wollten wir den Fokus auf die individuellen Schicksale der ehemaligen Zöglinge des Waisenhauses legen«, sagt Urrutia, der in Pankow aufwuchs und das Gebäude des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses seit seiner Jugend kennt. Den jiddischen Titel des Stücks habe man ganz bewusst als Erinnerung an die ersten Waisenkinder gewählt, die unmittelbar nach der Eröffnung des Hauses 1913 vor allem aus Galizien nach Pankow kamen, sagt Urrutia.

Leslie Brent findet, dass das Theaterstück dem ehemaligen Jüdischen Waisenhaus und dessen Zöglingen ein gelungenes und würdiges Denkmal setzt. »Wir erlebten das Waisenhaus als einen menschlichen Zufluchtsort, wo in einer feindlichen Welt die Lehrer und Hausväter ihr Bestes gaben, um uns zu ermöglichen, hier zu leben und unsere Ausbildung fortzusetzen.«

www.performingarts-festival.de

Immobilie

Das jüdische Monbijou

Deutschlands derzeit teuerste Villa auf dem Markt steht auf Schwanenwerder und soll 80 Millionen Euro kosten. Hinter dem Anwesen verbirgt sich eine wechselvolle Geschichte

von Ralf Balke  25.12.2025

Dating

Auf Partnersuche

Matchmaking mit Olami Germany – ein Ortsbesuch

von Jan Feldmann  23.12.2025

München

Ein kraftvolles Statement

Beim Gemeindewochenende nahmen zahlreiche Mitglieder an Diskussionen, Workshops und Chanukka-Feierlichkeiten teil

von Esther Martel  23.12.2025

Erfurt

Die Menschen halfen einander

Pepi Ritzmann über ihre Kindheit in der Gemeinde, ihre Familie und Antisemitismus. Ein Besuch vor Ort

von Blanka Weber  22.12.2025

Geburtstag

Holocaust-Überlebender Leon Weintraub wird 100 Jahre alt

Dem NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau entkam Leon Weintraub durch eine Augenblicks-Entscheidung. Heute warnt er als Zeitzeuge in Schulklassen vor Rechtsextremismus. Am 1. Januar feiert er seinen 100. Geburtstag

von Norbert Demuth  22.12.2025

Didaktik

Etwas weniger einseitig

Das Israel-Bild in deutschen Schulbüchern hat sich seit 2015 leicht verbessert. Doch der 7. Oktober bringt neue Herausforderungen

von Geneviève Hesse  22.12.2025

In eigener Sache

Die Jüdische Allgemeine erhält den »Tacheles-Preis«

WerteInitiative: Die Zeitung steht für Klartext, ordnet ein, widerspricht und ist eine Quelle der Inspiration und des Mutes für die jüdische Gemeinschaft

 24.12.2025 Aktualisiert

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Aufgegabelt

Apfel-Beignets

Rezept der Woche

von Katrin Richter  20.12.2025