Verständigung

Man spricht Deutsch

Das Lehrangebot ist da, aber vor allem ältere Zuwanderer möchten gern alles ins Russische übersetzt bekommen. Foto: Christian Ditsch

»Mobbing? Gibt es bei uns nicht«, winkt Klaudia Krenn ab. Sie holt tief Luft. »Schließlich ist niemand mehr da, der gemobbt werden könnte«, fügt sie nach einer kurzen Pause hinzu.

Die Verärgerung ist der Sekretärin der Israelitischen Religionsgemeinde Leipzig deutlich anzumerken. Seit »die Russen« die Mehrzahl der rund 1.200 Gemeindemitglieder stellen, fühlen sich andere Gemeindemitglieder außen vor und bleiben nach und nach weg – alte Leipziger ebenso wie zugewanderte Juden aus Polen, Argentinien, Irak. Für sie sei die Sprachbarriere einfach zu groß, so Krenns Einschätzung, seitdem nicht Deutsch, sondern Russisch bei Kiddusch und Kulturabenden vorherrscht. Dass Krenn selbst Russisch spricht und die Kultur gut kennt, gehört für viele Zuwanderer inzwischen zum guten Ton.

Voraussetzung Ganz anders in Mannheim. »Wer zu uns in die Gemeinde kommt, muss Deutsch sprechen, sonst verstehen wir ihn nicht.« Mit dieser Regel hat Schoschana Maitek-Drzevitzky, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mannheim, bislang nur positive Erfahrungen gemacht. »Insel der Glückseligen« nennt sie ihre Gemeinde, und das, obwohl sie zur Hälfte aus russischsprachigen Mitgliedern besteht.

Es ist ihr bewusst, dass nicht alle Gemeinden in Deutschland die gleiche Anzahl an Zuwanderern aufgenommen haben. Gleichwohl gäbe es ohne die Russen heute »überhaupt keine jüdischen Gemeinden in Ludwigshafen, Worms, Speyer und Mannheim«, so die pensionierte Studienrätin. Die »Neuauflage der West-Ost-Juden-Debatte« sieht Maitek-Drzevitzky daher gelassen. »Wer heute verschnupft die Migranten zum Politikum macht, sollte sich fragen, woher eigentlich seine Vorfahren kamen«, mahnt sie.

Vorfahren Diese Frage hat sich Patrick Marx längst gestellt. Sein Engagement in der Jüdischen Gemeinde Duisburg resultiert aus dem Bewusstsein, dass auch seine Großeltern nach der Flucht aus Nazideutschland eine neue Heimat in Frankreich fanden. Duisburg verzeichnete deutschlandweit den größten Zuwachs jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, die Mitgliederzahl stieg seinerzeit sprunghaft von 120 auf 2.800 an. »Hinter uns liegt ein steiniger Weg«, beschreibt Marx vorsichtig die gegenseitige Annäherung.

Ausgegrenzt fühle er sich nicht, betont er. Nur ein bisschen enttäuscht vielleicht. Denn während Chanukkaball, Kinderchor und Tanzcafé großen Zulauf haben, will das Religiöse nicht so recht in Gang kommen. »Am 9. Mai, dem sowjetischen Tag der Befreiung, ist der Gemeindesaal voll, die Synagoge am Schabbat aber meist leer«, bedauert Marx. Es ist vor allem die »Jüdischkeit«, die er in seiner Gemeinde vermisst. Dennoch schaut der Duisburger Apotheker optimistisch in die Zukunft. Er setzt darauf, dass sich vor allem die junge Generation ehemaliger Zuwanderer zunehmend als »deutsche jüdische Gemeinde« begreift.

»Die Kinder und Enkel sind schon jetzt eine echte Bereicherung«, schwärmt hingegen Schoschana Maitek-Drzevitzky aus Mannheim. Doch auch die Älteren hat die engagierte Gemeindechefin über die Jahre für die Gemeindearbeit gewonnen. Besonders stolz ist Maitek-Drzevitzky deshalb auf die Frauengruppe, 30 Frauen, die sich regelmäßig treffen, zusammen Ausflüge machen, kochen, Vorträge hören und die Barmizwa ihrer Kinder und Enkel organisieren. »Stück um Stück ist diese Gruppe gewachsen. Integration ist ein täglicher Prozess, bei dem man auch mal Rückschläge einstecken muss«, meint Maitek-Drzevitzky ernüchtert.

»Ich spreche immer zuerst jeden auf Deutsch an«, ist auch Klaudia Krenns Devise. Doch in Leipzig passt das vielen nicht. »Entweder die Leute legen sofort wieder auf, antworten auf Russisch oder verlangen, ich soll gleich Russisch reden.« Gelegenheiten Deutsch zu lernen, gibt es in Leipzig viele, Druck jedoch keinen und Motivation noch weniger. Kein Wunder, gibt es doch längst russischsprachige Ärzte, Sozialarbeiter und Supermärkte, und wo es mit deutschen Gesetzen und der Bürokratie hapert, hilft die Gemeinde weiter. Auf diese Art ist im Laufe der Jahre ein engmaschiges soziales Netz entstanden, eine Art »Hängematte, in die sich viele einfach fallen lassen«, so Krenns Erfahrung. Keine Spur mehr von »Hilfe zur Selbsthilfe«, dem Motto zur Integration vor 20 Jahren. »Hilfe ist bei uns zum Dauerzustand geworden«, beklagt die 60-Jährige.

Voraussetzungen Das kam für Schoschana Maitek-Drzevitzky nie infrage. »Wir sind keine Sozialstation«, so ihre strikte Politik. »Von uns für uns« heißt deshalb auch das Motto der Gemeindearbeit, mit dem sich die 500 Mannheimer Gemeindemitglieder schon eher identifizieren. Veranstaltungen finden prinzipiell auf Deutsch statt, die dazugehörigen Texte gibt es in russischer Übersetzung zum Mitlesen. Maitek-Drzevitzky legt viel Wert darauf, die Leute willkommen zu heißen und die Ressourcen zu nutzen, die da sind.

Warum sollte ich zu einer Vernissage Musiker von außen holen, wenn ich eine exzellente Geigerin in meiner Gemeinde habe? Da binde ich doch lieber meine eigenen Leute ein und bringe ihnen damit zugleich die Wertschätzung entgegen, die sie aufblühen lässt.» Ihr Schlüssel für erfolgreiche Integration – eine Kombination aus Kreativität, Geduld und Fantasie – scheint in Mannheim zu passen. Anderenorts bedarf es auf dem Weg zur «deutschen jüdischen Gemeinde» womöglich noch weiterer Generationen, um die letzten Barrieren zwischen Alteingesessenen und Zugewanderten abzubauen.

B’nai B’rith

»Wie eine große Familie«

Delegierte aus 20 Ländern kamen zusammen, um sich eine neue Organisationsstruktur zu geben

von Ralf Balke  03.11.2025

Berlin

Jüdische Gemeinde erinnert an November-Pogrome

Zum 87. Jahrestag der NS-November-Pogrome von 1938 werden am Sonntag ganztägig die Namen der im Holocaust ermordeten Berliner Jüdinnen und Juden vorgelesen. Bei einem Gedenken am Abend wird Berlins Regierender Bürgermeister sprechen

 03.11.2025

Gedenkstätten

Gedenkzeichen für jüdische Ravensbrück-Häftlinge

Zur feierlichen Enthüllung werden unter anderem Zentralratspräsident Josef Schuster, die brandenburgische Kulturministerin Manja Schüle (SPD) und der Beauftragte für Erinnerungskultur beim Kulturstaatsminister, Robin Mishra, erwartet

 03.11.2025

Porträt der Woche

Zufluchtsort Musik

Naomi Shamban ist Pianistin, lebt in Dresden und hat eine Schwäche für Märchenfilme

von Alicia Rust  03.11.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Hund, Katze & Co

Beste Freunde

Wenn Tiere Familie werden: Gemeindemitglieder erzählen vom leisen oder lauten Glück, mit Vierbeinern zu leben

von Christine Schmitt  02.11.2025

Berlin

Parfüm mit Geschichte

Das israelische Label Zielinski & Rozen stellte seine Duftkollektion vor, die 1905 in Jaffa kreiert wurde

von Alicia Rust, Erez Zielinski Rozen, Gemeinde Berlin, Parfüm  02.11.2025

Feier

Zusammenhalt und Zuversicht

Die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern lud zum Neujahrsempfang in den Hubert-Burda-Saal

von Esther Martel  02.11.2025

Auszeichnung

Die Frau mit den Blumen

Zwei Jahre lang ging Karoline Preisler auf anti-israelische Demonstrationen, um auf das Schicksal der Geiseln aufmerksam zu machen. Jetzt erhält sie den Paul-Spiegel-Preis des Zentralrats der Juden

von Michael Thaidigsmann  02.11.2025