Kirchentag

Im Dialog

Hannah Dannel (l.), Referentin der Zentralrats, moderierte auf dem Kirchentag in Nürnberg die Diskussion über Judenhass. Foto: Stefan Römmelt

Der 10. Juni kann durchaus als historischer Tag bezeichnet werden, denn zum ersten Mal hielt die Israelitische Kultusgemeinde Nürnberg am Hans-Sachs-Platz, dem Standort der 1938 zerstörten Synagoge einen Schabbat-Gottesdienst ab. Damit »schaffen wir es, gleichzeitig die Vergangenheit in Erinnerung zu bringen und eine bessere, verständnisvollere gemeinsame Zukunft zu gestalten«, sagte Rabbiner Steven Langnas vorab. Und weil »dieser Gottesdienst großzügiger Weise im Rahmen des Kirchentags stattfindet, stärkt er die Brücke zwischen den Religionen«.

Auch Anatoli Djanatliev, dritter Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, hat der Gottesdienst in der Innenstadt nachhaltig beeindruckt: »Es war ein unglaubliches Gefühl von Freiheit, als Jude mit Kippa in aller Öffentlichkeit beten zu dürfen.« Schon bei der Synagogenführung am vergangenen Donnerstagvormittag war »das Interesse überwältigend«, sagt Djanatliev. Teilgenommen hätten sehr unterschiedliche Menschen: »Einige waren zum ersten Mal in einer Synagoge, andere kannten sich schon etwas mit dem Judentum aus.« So seien interessante und spannende Diskussionen entstanden; Gemeinderabbiner Steven Langnas habe den Teilnehmenden jüdische Religion und Ethik sehr gut nahebringen können.

MOTTO Der 38. Deutsche Evangelische Kirchentag hatte sich in diesem Jahr das Motto »Jetzt ist die Zeit« gegeben. Der Slogan stammt aus dem Markus-Evangelium im Neuen Testament und ist während des viertägigen Festivals kaum zu übersehen in Nürnberg, denn fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer tragen die grün-gelben Schals mit diesem Aufdruck. Auch die, die am Freitagmittag in den Großen Saal der Meistersingerhalle gekommen sind.

Dort soll diksutiert werden: »Antisemitismus: Geht mich das was an? Erkundungen in vermintem Gelände«. 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer warten vor dem Podium, das durch ein Impulsreferat von Zentralratspräsident Josef Schuster eröffnet werden wird. Für die Diskussion haben sich prominente Expertinnen und Experten angekündigt: Marina Chernivsky, Geschäftsführerin des Berliner »Kompetenzzentrums Prävention und Empowerment«, die Autorin Juna Grossmann, die seit 2008 den Blog »irgendwiejuedisch.com« betreibt, Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, und Christian Staffa, Antisemitismus-Beauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Weil das Thema ein schweres ist, steht vor der Diskussion erst einemal etwas Musik: Die Mezzosopranistin Sofia Falkovitch, in Moskau geboren und in Paris zu Hause, ist eine Pionierin: Sie wurde als erste Frau in Deutschland zur Synagogalkantorin ausgebildet. Die europaweit gefragte Sängerin und erste Luxemburger Kantorin ist in verschiedenen musikalischen Stilen zu Hause und interpretiert Werke von Barock bis zeitgenössisch. Am Freitag aber ist ihr erstes Stück ein Hochzeitssegen.

»Wie können wir, was vor unseren Augen passiert, nicht sehen?«

Marina Chernivsky

Hannah Dannel, Referentin für Kultur und Kommunikation des Zentralrats der Juden in Deutschland, moderiert die Diskussion. Und gleich zu Beginn weist Schuster darauf hin, dass die Losung des Kirchentags »Jetzt ist die Zeit« in besonderem Maße zum Thema der Veranstaltung passe. »Leider muss ich konstatieren, dass Antisemitismus in den verschiedensten Ausprägungen in unserer Gesellschaft so offen wie schon lange nicht mehr grassiert.«

Der Judenhass habe aber nichts mit den realen Jüdinnen und Juden zu tun, Antisemitismus müsse vielmehr als grundsätzliches Problem derjenigen Gesellschaften gesehen werden, in denen er entstehe. Er sei ein Zeichen für eine katastrophale Fehlentwicklung. Der Antisemitismus sei zudem kein Phänomen der Neuzeit sondern reiche weit in die Antike zurück. »Hier muss ich im Rahmen des Kirchentags leider auch den christlichen Antijudaismus erwähnen«, sagte Schuster. Die Kirchengeschichte sei seit ihren Anfängen davon mit geprägt, Antijudaismus passe sich im Ausdruck dem jeweiligen Zeitgeist an, kanalisiere eine gewisse Unzufriedenheit und gebe Menschen eine Projektionsfläche für ihre Frustrationen. »Er ist ein süßes Gift, welches die Mehrheit von jeder Verantwortung freispricht, solange anderen all ihre Schuld aufgeladen werden kann.«

Mit Blick auf die »Wittenberger Judensau« an der Stadtpfarrkirche der Lutherstadt und andere, im Mittelalter entstandene antijüdische Abbildungen wie die »Synagoga« am Bamberger Dom sagte Schuster: »Ich kann nicht erkennen, dass diese Figuren das wahre Wesen des Christentums repräsentieren können.« Wo antijüdische Figuren nicht entfernt würden, müsse eine angemessene und eindeutige Kontextualisierung der entsprechenden Plastiken erfolgen, forderte der Zentralratspräsident unter Beifall des Publikums.

HALTUNG In der Gegenwart jedoch hätten beide christliche Kirchen den Kampf gegen Antisemitismus verinnerlicht. Das christlich-jüdische Verhältnis sei daher so gut wie wohl noch nie in der Geschichte, bilanzierte Schuster und hob die kooperative Haltung der evangelischen Kirche hervor: Vor dem Hintergrund der zunehmenden Ausgrenzung jüdischer Kulturschaffender, dem »stillen Boykott« im Kulturbetrieb, sei die 2020 veröffentlichte Stellungnahme des Rates der EKD zur Debatte um die israelfeindliche und antisemitische BDS-Kampagne von unschätzbarem Wert: »Hier wird deutlich, dass der interreligiöse Dialog von existenzieller Bedeutung gerade in diesen Zeiten ist und eine Vorbildfunktion erfüllt.«

Dann griff Schuster den Appell »Hoffen. Machen« auf, der zum Motto des Kirchentags gehört, und forderte das Publikum auf, »etwas zu machen« und antisemitische Bemerkungen und Vorfälle zu melden. Die Anlaufstelle für Meldungen per Telefon oder online ist der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS).

Zentralratspräsident Josef Schuster griff den Appell »Hoffen. Machen« auf, der zum Motto des Kirchentags gehört.

Und wie sind die Wahrnehmungen des »Phänomens Antisemitismus« bei den Podiumsgästen? Juna Grossmann fühle einerseits Resignation, andererseits wolle sie nicht aufgeben: »Ich merke immer deutlicher, dass ich oft die Einzige bin, die etwas sagt.« In Sachen Antisemitismus herrsche eine große Ratlosigkeit, und sie müsse sehr viel erklären und verteidigen. Dennoch könne sie nicht schweigen: »Ich bin Berlinerin, ich bin so erzogen, und ich höre nicht auf, auch wenn ich eine Zeit lang etwas stiller bin.«

zivilcourage Für Marina Chernivsky ist es wichtig, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. »Ich frage mich, warum das Gelände so vermint ist? Wie kommen wir dahin, dass wir das, was vor unseren Augen passiert, nicht sehen können?«, bemerkte die Psychologin und appellierte an die Zivilcourage jedes Menschen.

Felix Klein betonte, er bekämpfe jede Form von Antisemitismus ohne Hierarchisierung. Dieser Kampf sei aber keine jüdische Aufgabe, sondern gehe jeden und jede an. Alle seien dazu aufgerufen, etwas zu tun. Empört zeigte sich der Jurist über die Weigerung der Wittenberger Stadtkirchengemeinde, die an der Kirche angebrachte »Judensau« zu entfernen: »Es ist unglaublich, dass eine so unmögliche Tradition in der Kirche weiter fortwirkt.« Er habe den Eindruck, die Kirchengemeinde betrachte die »Judensau« als eine lokale Angelegenheit.

Die Weigerung, die Schmähplastik aus dem öffentlichen Raum zu entfernen, sei Zeichen einer völligen Empathielosigkeit: »Was eine Beleidigung ist, entscheidet der Empfänger«, so Klein. Er habe sich dafür ausgesprochen, dem Gebäude den UNESCO-Weltkulturerbestatus abzuerkennen, »solange eine kirchliche Institution mit einer antijudaistischen Tradition so umgeht.« Der Theologe Christian Staffa wies darauf hin, dass es im Christentum allgemein, etwa in der Befreiungstheologie, »richtigen Hardcore-Antisemitismus« gebe. Der jüdisch-christliche Dialog müsse sich auch generell mit dem jüdischen Charakter des Neuen Testaments auseinandersetzen, der auf christlicher Seite zu einer »narzisstischen Kränkung« geführt habe.

Herausforderungen gibt es also noch viele. Aber vielleicht sind es ja die kleinen Dinge im Dialog, die nachhaltig sind. Wie eben die Synagogenführung mit den anschließenden Gesprächen. Anatoli Djanatliev, Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, zumindest ist begeistert über die Resonanz. Nur einen Wunsch hat er: »Es wäre ideal, in Zukunft den Zeitpunkt und den Rahmen solcher Anlässe auch selbst bestimmen zu dürfen.« Dafür wäre doch jetzt Zeit.

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