Porträt der Woche

»Ich wollte frei sein«

»Mein Vater sprach Jiddisch und sonst fast nichts; er kam aus der alten Welt«: Blanka Wilchfort Foto: Christian Rudnik

Porträt der Woche

»Ich wollte frei sein«

Blanka Wilchfort ist Psychologin und wagte mit 33 Jahren einen Neuanfang als Bildhauerin

von Katrin Diehl  07.07.2019 11:24 Uhr

Ich habe das starke Gefühl, dass ich gerade ein neues Kapitel aufschlage, dass etwas Neues beginnt. Themen, die mich über Jahre als Bildhauerin, aber auch insgesamt, bewegt und in meinem Tun geleitet haben, habe ich abgearbeitet, erledigt.

Meine Projekte waren über Jahre Ausdruck verwundeter Seelen, den verwundeten Seelen der Holocaust-Überlebenden. Dass ich damit abschließe, abschließen kann, hat etwas mit meiner Lebensphase zu tun, damit, dass ich die dritte Generation, meine Enkelkinder, drei quicklebendige Jungs, sehr bewusst miterlebe, auch wenn die mit ihren Eltern weit weg in New York leben.

Verbundenheit Jahrelang übte meine Mittelposition – hier meine Eltern, dort mein Kind – Wirkung auf mich aus. Vor allem mit meiner Mutter war die Verbundenheit über deren erlebtes Leid sehr stark. Vor viereinhalb Jahren ist sie gestorben. Seitdem ist es mir möglich geworden, mich von ihrem Leid Stück für Stück zu verabschieden. Da fällt viel ab, viel stellvertretend Empfundenes, viel Identifikation. Ich richte meinen Blick auf meinen Sohn, den mein Mann und ich ziehen lassen konnten, und dessen junge Familie, die so frei lebt und die nach vorne sieht.

Für sie ist die jüdische Identität keine Last, ist nicht mit Trauer verbunden sondern mit Freude, was sicher auch damit zu tun hat, dass jüdisches Leben in Amerika grundsätzlich etwas ganz anderes ist, viel selbstverständlicher, viel pluralistischer. Ich kriege das förmlich über den Atlantik hinweg mit, lasse mich infizieren von dieser Heiterkeit und Zuversicht. Auch ich sehe jetzt nach vorne.

Die Geschichten meiner Eltern fühlten sich immer so an, als wären es auch meine eigenen.

Dabei bin ich ja selbst einmal wegge-gangen aus Deutschland. Aber eben auch wieder zurückgekehrt. Eine verzwickte Geschichte, ein Gestoßen- und Gezogenwerden und am Ende so etwas wie ein Heimatgefühl.

eltern Geboren wurde ich in Stuttgart und zwar im Dezember 1947, aufgewachsen bin ich hier in München und zwar – zum Glück, wie ich finde – in so einer gemeinnützigen Wohnsiedlung, wo hauptsächlich Arbeiterfamilien untergebracht waren. Ich habe bayerisch gesprochen und bin den ganzen Tag mit den Kindern von dort unterwegs gewesen, unten in diesem abenteuerlichen Innenhof. Ich war frei, ich war wild und wollte abends überhaupt nicht mehr in diese Wohnung zurück, wo in allen Ecken Depression hing.

Dass ich ein jüdisches Kind war, das habe ich von Anfang an gewusst, umso wichtiger war es, mit all den nichtjüdischen Kindern zusammenzuhängen. Das hat mir irgendwie die Möglichkeit gegeben, trotz alledem so etwas wie Wurzeln zu bilden.

Meine Eltern kamen beide aus Polen, meine Mutter aus Warschau, mein Vater aus dem Städtchen Zabłudów. Meine Mutter stammte aus einer sehr liberalen Familie, sprach kein Jiddisch, mochte keine Klezmermusik, stattdessen coolen Jazz.

Mein Vater dagegen sprach Jiddisch und sonst fast nichts, kam aus dieser alten Welt. Begegnet sind sich die Zwei gleich nach der Befreiung, sozusagen auf der Straße, als die Russen das Land befreit hatten und all die Juden aus ihren Verstecken herauskamen – auch meine Eltern. Sie haben sich wohl aneinandergeklammert.

ghetto Meine Mutter war vor dem Aufstand im Warschauer Ghetto mit ihrer und einer zweiten Familie durch die Abwasserkanäle auf die »arische« Seite geflüchtet, wo sie zunächst über eineinhalb Jahre unter unglaublichen Bedingungen im Keller einer Villa, die noch im Rohbau stand, versteckt gelebt haben.

Mit 33 Jahren habe ich mich getraut. Mit 33 Jahren habe ich mich an der Münchner Kunstakademie beworben.

Mein Großvater ist in diesem Geschoss unter der Erde gestorben, und man musste ihn irgendwie begraben im Boden, der noch nicht zuzementiert war. Später haben Schleuser die Familie nach Lodz gebracht, wo sie sich bis zur Befreiung aufs Neue versteckten. Mein Vater dagegen ist gerade als junger Soldat in der polnischen Armee gewesen. Er geriet in Gefangenschaft und schaffte es dort, sich nicht als Jude zu erkennen zu geben, flüchtete und schlug sich durch. Das waren also die Geschichten, die ich als Kind immer wieder hörte. Das sind die Geschichten, mit denen ich aufgewachsen bin, und es hat sich so angefühlt, als wären es auch meine Geschichten.

studium Meine Eltern hatten jedenfalls viel mit mir als ihrer Erstgeborenen vor, hatten ehrgeizige Pläne. Und sie hatten die Vorstellung, dass ihr Kind nicht in Deutschland bleiben sollte, eine Vorstellung, die sie im Übrigen mit den Plänen der Eltern meines späteren Mannes, den ich schon während der Schulzeit kennengelernt habe, teilten.

Dessen Eltern hatten auch diese ehrgeizige Idee, waren zudem befreundet mit meinen Eltern. Es waren Überlebende, die sich wahnsinnig schuldig fühlten, weil sie in Deutschland lebten. Das Land zu verlassen, schafften sie trotzdem nicht. Deshalb sollten wenigstens die Kinder gehen, und mir war das nur recht. Ich wollte frei sein.

David und ich, wir haben geheiratet und sind ab nach Kanada. In Toronto habe ich mein angefangenes Psychologiestudium fortgeführt, und dann sind wir auch gleich schwanger geworden. Wir waren also ein junges Studentenpaar mit Baby und mochten dieses Leben.

Ich habe meinen Bachelor gemacht, David sein Medizinstudium abgeschlossen, worauf wir uns erst einmal eine Auszeit gönnten – wie das bei kanadischen Studenten damals so üblich war – und uns aufgemacht haben zu einem großen Europa-Trip.

Im gelben VW-Bus sind wir mit dem kleinen Benjamin im Gepäck durch die Länder getingelt, und es war einfach wunderbar. Allerdings merkte ich dabei immer deutlicher, dass es wohl doch Europa, Deutschland, am Ende München sein sollte, wo ich mich zu Hause fühlte. So sind wir zurückgekehrt.

BERUFUNG 1977 hatte ich mein Diplom in der Tasche. Mein Mann hatte zusätzlich zu seinem Medizinstudium am Max-Planck-Institut noch Psychiatrie gemacht. Beide ließen wir uns zusätzlich als Therapeuten ausbilden, mein Mann machte eine Praxis auf, in der auch ich mit von der Partie war. All das habe ich brav und gut hingekriegt, habe die Erwartungen von Eltern und Mann erfüllt. Und mir hat das ja sogar auch gefallen. Dass meine tiefe Berufung eine andere war, das habe ich immer in mir drinnen gespürt.

Mit 33 Jahren habe ich mich getraut. Mit 33 Jahren habe ich mich an der Münchner Kunstakademie beworben, wo sie nur in Ausnahmefällen, und wenn alle Professoren im Aufnahmekomitee zustimmten, Leute über 30 nahmen. Ich wurde genommen, zog dieses Studium, das für mich noch einmal eine richtige Umstellung bedeutete, durch, weil ich alles, was ich anfange, auch zu Ende bringe.

SKULPTUREN Mein Gebiet ist die Bildhauerei, ist das Erschaffen von Skulpturen. Für mich ist die dreidimensionale Kunst etwas ganz Besonderes. In ihr drückt sich das aus, was ich auch in meinem Psychologiestudium verinnerlicht habe: Man soll nie von nur einer Perspektive aus urteilen. Man muss alles von verschiedenen Seiten betrachten.

In vielem steckt ja eine Ambivalenz, die man mit einfachen Worten nie ausdrücken kann. Zudem stelle ich mich als Bildhauerin der Herausforderung, ein Kunstwerk zu machen, das dem Blick von allen Seiten standhält. Und dann entsteht so etwas wie mein »Leerer Stuhl«.

Seit wir hier in Obermenzing, einem Stadtteil von München, wohnen, bin ich in Kontakt mit den Künstlern aus dieser Ecke und dem »Kulturforum München West«. Und da gab es dann eben mal diese Idee, für den angrenzenden Stadtteil

Pasing »lustige, erheiternde« Stühle zu machen, die die Leute einladen sollten, sich zu setzen und innezuhalten. Ich dachte darüber nach und merkte, da meldet sich etwas in mir, sagt »Nein«. Ein sehr deutliches, heftiges, wütendes »Nein«. Was es nämlich in Pasing auch gibt, ist eine Führung – da bin ich einmal mitgegangen –, bei der man erfährt, wo hier überall einmal jüdische Menschen gewohnt haben und was mit ihnen passiert ist. So ist mein »Leerer Stuhl« entstanden mit seinen langen, dünnen Beinen und einer nicht erreichbaren Sitzfläche.

Nach seiner Fertigstellung, bei der mir die Künstlerin Marlies Poss geholfen hat, ist er aufgestellt worden, und zwar auf einer Verkehrsinsel. Dass es ihn jetzt immer noch gibt, obwohl das Projekt längst beendet ist, habe ich engagierten Menschen zu verdanken, auch Marian Offman aus dem Stadtrat. Mein »Leerer Stuhl« steht jetzt vor dem Pasinger Rathaus – und zwar für immer.

Aufgezeichnet von Katrin Diehl

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