Porträt der Woche

»Ich vermisse hier nichts«

»Wir fühlen uns hier wohl und total integriert«: Noah Cohen lebt in Dießen am Ammersee. Foto: Lydia Bergida

Porträt der Woche

»Ich vermisse hier nichts«

Der Israeli Noah Cohen ist Fotograf, lebt am Ammersee und porträtierte Juden an ihren Lieblingsorten

von Katrin Diehl  19.02.2022 20:59 Uhr

Mit einem Foto ist es im Grunde ähnlich wie mit einem Text: Gelungen ist es dann, wenn es eine gute und interessante Geschichte erzählt. Bei einem Pressefoto – und aus der Ecke komme ich ja eigentlich – sieht die Sache ein wenig anders aus, auch weil das Bild in diesem Rahmen mehr dokumentarischen Charakter hat, Informationen optisch ergänzt.

Sehe ich mir ein Foto nach etwa einem Monat noch einmal an – wenn es immer noch wirkt, dann bedeutet das etwas. Dann hat es Wert. Um so weit zu kommen, braucht es natürlich erst einmal eine solide Ausbildung. Und danach wächst mit jedem weiteren Bild die Erfahrung.

umweg Ich selbst bin zum Fotografieren über einen Umweg gekommen. Ursprünglich war ich Elektroingenieur, in Israel hatte ich Ingenieurwissenschaften studiert. Irgendwann wollte ich mich dann nach etwas anderem umsehen, hatte aber zum Wechseln noch nicht den richtigen Mut.

Was ich allerdings gemacht habe – und das war ganz schön stressig neben Beruf, Familie, zwei kleinen Kindern –, war, dass ich Kurse in der »Camera Obscura School of Art« belegte, einer Hochschule in Tel Aviv mit gutem Ruf. Und da hatte ich dann das Glück, Shabtai Tal zu treffen, einen renommierten Pressefotografen.

Hier in Deutschland kennt man ihn wahrscheinlich wegen seiner Fotoreportagen im »Stern«: Er hat dieses berühmte Bild von Ben Gurion gemacht, wie er dasitzt und sinnierend in die Ferne schaut. Shabtai Tal hat mir die Routine beigebracht, die Abläufe, die man draufhaben muss, wenn man für die Presse arbeitet.

Ein See vor der Haustür war mir als kleiner Ersatz fürs Meer einigermaßen wichtig.

Bei der Ausbildung ging es generell erst einmal um sehr Grundsätzliches. Damals gehörte da auch unbedingt noch dazu, dass man wusste, welche Chemikalien beim Entwickeln eine Rolle spielen und so weiter. Im Übrigen hat es mir später, als ich dann endgültig aufs Fotografieren umgestiegen war und sich die Digitalfotografie so langsam durchsetzte, durchaus genutzt, dass ich einiges an technischem Ingenieurwissen hatte.

EUROPA Da haben sich andere schwerer getan, und manche sind tatsächlich auch pleitegegangen, weil sie zu lange an ihren Großformatkameras festhielten, und plötzlich war dann die Konkurrenz riesig. Ich dagegen wurde schnell warm mit der neuen Technik.

Als Pressefotograf war ich dann viel für die Kultur unterwegs, machte Porträts, fotografierte in der Tanzszene, und das sehr gerne in Schwarz-Weiß. Das ist eine Reduktion, die die Botschaft schneller transportiert, und das mag ich. Und irgendwann stand dann fest: Wir, die ganze Familie, gehen nach Deutschland. Das war 1987.

Dahinter verbarg sich der Wunsch meiner Frau, die Kinder europäisch aufwachsen zu lassen. Und ihrer Argumentation, dass, wer in der israelischen Gesellschaft aufwächst, dort zum Militär geht, irgendwie für immer in dieser Schicksalsgemeinschaft gefangen ist, konnte ich tatsächlich folgen. Ich als echter Israeli, 1954 in Tel Aviv geboren, wusste, wovon sie redete.

Meine Frau und ich wollten die Kinder europäisch aufwachsen lassen.

Als Jugendlicher war ich auf einem militärischen Internat, habe fünf Jahre Militärdienst gemacht, habe im Jom-Kippur-Krieg gekämpft, dann Reservedienst gemacht. Auch wenn wir Israelis ganz woanders sind auf der Welt – wir wachen auf und wollen wissen: Was ist gerade los in unserem kleinen Land? Ich stehe auf, mache den Computer an und lese im Internet »Haaretz« und »Ma’ariw«. Ich kann meine Familie anrufen und ihnen sagen, wo gerade ein Stau in ihrer Nähe ist. Und so etwas ist meinen Kindern tatsächlich erspart geblieben.

BAYERN Dass es Deutschland geworden ist, Bayern, der kleine Ort Dießen am Ammersee, hat zunächst einmal damit zu tun, dass meine Frau, als sie noch ein kleines Mädchen war, Anfang der 70er-Jahre mit ihrer Familie aus Ungarn geflohen ist mit dem Ziel Kanada, USA oder Australien. In Deutschland ist man dann hängen geblieben, zumal ihr Vater in München als Physiker gute Arbeit bei Siemens gefunden hat.

Wir allerdings wollten sehr bewusst in die Provinz, haben nach einem Platz gesucht, den wir uns als Freie leisten konnten, und das war damals tatsächlich noch die Gegend um den Ammersee herum. Ein See vor der Haustür war mir als kleiner Ersatz fürs Meer einigermaßen wichtig. Und dann haben wir sie mit viel Glück gefunden: unsere Scheune, die wir uns in ein paar Monaten zu einem gemütlichen Wohnhaus umgebaut haben.

Wir fühlen uns in Dießen wohl und total integriert, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass ich meine Fotomotive nicht am Nord- oder Südpol suche, sondern vor der eigenen Haustür.

projekte Für eines meiner Projekte bin ich zum Beispiel zum nächsten Kuhstall gegangen, habe den Bauern dort gefragt, ob ich ihn fotografieren dürfe, woraufhin er fragte: »Mich? Wieso? Warum?«. Und ich antwortete dann: »Weil’s interessant ist.« »Ach so, ja dann«, hat er erwidert. Ich habe ihn und seine Frau fotografiert und dann den Radius erweitert, und daraus ist dann eine Ausstellung entstanden. Genannt habe ich sie: »Wohin läuft der Hase? Bei uns in der Provinz«. Auf dem Ausstellungsplakat war ein Feldhase zu sehen, der auf eine Weggabelung zuhoppelte. Für welche Richtung er sich am Ende entschieden hat, verrate ich nicht. Die Ausstellung im Dießener Taubenturm war jedenfalls ein Erfolg.

Dorthin kamen Bauern und Bäuerinnen, die nie zuvor in diesen Räumlichkeiten gewesen sind. Und sie waren begeistert! Und ich bin danach auch einmal in die Wirtschaft zum dortigen Stammtisch eingeladen worden, was wirklich mit einem Ritterschlag der Queen zu vergleichen ist. Das hat mich zwar nicht zu einem Bayern gemacht, und Bier trinke ich auch keines, aber ich bin mit den Leuten befreundet.

Eine Einladung zum bayerischen Dorfstammtisch kommt einem Ritterschlag der Queen gleich.

Später ist dann auch noch eine Bäuerin zu mir gekommen und hat gesagt: »Du hast doch meine Tochter fotografiert, das Bild gefällt mir, und ich will ihr das gerne schenken, wie viel willst denn dafür?« Und ich habe geantwortet: »Ich gebe es dir einfach so.« Sie wollte es unbedingt bezahlen. Schließlich konnten wir uns auf ein Tauschgeschäft einigen: Wenn bei der Bäuerin geschlachtet wird, kriege ich einen Anruf und später ein paar Kilo Fleisch.

FESTJAHR Dass ich Jude oder Israeli bin, interessiert hier, ehrlich gesagt, niemanden wirklich. Ich sitze dann zum Beispiel mit denen im Schützenheim, wo das Dorftheater untergebracht ist, und schaue mir bayerische Komödien an, und meistens habe ich auch gleich ein paar Freunde mit dazu eingeladen.

Nach München habe ich schon auch meine Kontakte, bin mit einigen aus der Gemeinde befreundet, und das hat mir dann auch bei meinem letzten Projekt geholfen, das ich im Rahmen des Festjahrs »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« gemacht habe. Ich habe dafür unter dem Titel »Bis gleich, Isaak!« deutsche Juden und Jüdinnen an ihren Lieblingsplätzen fotografiert. Die Ausstellung wurde schon mehrfach gezeigt. Dabei ist die Sache anfangs eher zäh angelaufen: Die Leute wollten sich nicht fotografieren lassen. Aber irgendwann lief es, und das hat mir dann auch die nächsten Kontakte gebracht für ein möglicherweise nächstes Projekt.

Es würde mich sehr reizen, hier in München bei Makkabi zu fotografieren, wo knapp 2000 Jugendliche, Juden, Muslime, Christen zusammen Sport machen. Die feiern dort die Feiertage zusammen, Freundschaften entstehen über Religionen und Mentalitäten hinweg. Auf so etwas mache ich gerne aufmerksam.

HELDEN Außerdem möchte ich vielleicht das »YouthBridge«-Programm der Europäischen Janusz Korczak Akademie in München fotografisch begleiten. Die bilden da unter anderem Jugendliche zu Coaches gegen Antisemitismus aus. Leute, die sich eher hinter den Kulissen gegen Antisemitismus, Rassismus engagieren, sind für mich stille Helden.

Zudem läuft natürlich mein Langzeitprojekt in Israel immer weiter. Ich bin dort mindestens einmal im Jahr sowie zu jeder nächsten Hochzeit innerhalb meiner stetig wachsenden Großfamilie. Da ruft dann jemand von denen an und sagt: »Der oder die will heiraten, wann hast du Zeit?« Das sind dann auch immer Gelegenheiten, weiterzumachen an besagtem Langzeitprojekt mit dem einfachen Arbeitstitel »Jerusalem«.

Jeder weiß das: In Tel Aviv lebt man, und in Jerusalem gibt es die besten Motive. Und in Bayern lässt es sich einfach gut leben. Ich vermisse hier nichts. Man muss es einfach verstehen, sich auf Veränderungen einzulassen. Ein uraltes Emigrantengesetz.

Aufgezeichnet von Katrin Diehl

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